Warning: Undefined variable $open_graphite_head in /home/.sites/587/site434/web/wp-content/plugins/open-graphite/_open_graphite.php on line 619 evamaria – Seite 10 – Säkularer Buddhismus

Unser goldener Okober

Es ist warm, und die Sonne scheint. Meine Freude darüber ist nicht ungetrübt angesichts der Tatsache, dass es viel zu warm ist. Es hat lange gedauert, bis nun auch der Präsident der USA den Klimawandel nicht mehr für ausgeschlossen hält. Dieses Inserat, das ich diese Woche gefunden habe, spricht für sich: Die Erkenntnis, dass ständiges Wachstum nicht unvermeidlich sei, ist noch nicht in den Köpfen den meisten Menschen angekommen. Die buddhistische Weisheit: was wächst, wird wieder vergehen, muss erst noch länger reifen und hoffentlich nicht durch immer wiederkehrende Naturkatastrophen bestätigt werden.

Das Ende der Menschheit?

Dalai Lama: Frieden oder Ende der Menschheit

Der Dalai Lama richtet mit seinem neuen Büchlein einen flammenden Appell an die Welt, vor allem an die Jugend. „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert des Friedens sein – oder das Ende der Menschheit bringen.“

Die jetzt jungen Leute hätten die „grenzenlose Kraft der Zukunft“ in sich, mit der es möglich sei, „mit der Finsternis der Vergangenheit aufzuräumen“. Der Lama setzt enorme Hoffnungen in diese Generation. Er schreibt: „Reißt zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun auch die letzten Mauern der Schande ein.“ Den ab 2000 geborenen Menschen wohne die Kraft des Friedens inne, zeigt sich der 82-jährige „ozeangleiche Lehrer“, wie Dalai Lama übersetzt heißt, überzeugt. Und er fühlt sich trotz seines Alters mit der Jugend auf einer Altersstufe, wenn es darum geht, für den Frieden einzutreten. Denn „wir sind alle in der Phase des Neubeginns“.

Dalai Lama

Der 14. Dalai Lama richtet einen Appell an die jungen Menschen, die Welt zum Besseren zu verändern

„Revolution des Mitgefühls“

Mit seinem unbedingten Festhalten an der Gewaltlosigkeit fordert er die Jugend auf, sich nicht von den aktuellen Kriegen, Krisenherden und von Terror entmutigen zu lassen. Gewaltlosigkeit erfordere zwar viel mehr Geduld und Willensstärke, sei aber letztlich erfolgreicher. „Die Geschichte lehrt uns, dass militärische Siege und Niederlagen nie von langer Dauer sind.“ Und: „Gewaltlosigkeit ist die pragmatische Lösung für die Konflikte unserer Zeit.“ Es sei die Zeit gekommen für eine Revolution, die noch nie da gewesen sei: eine Revolution des Mitgefühls. In diesem Zusammenhang beschwört er auch den Mut der Frauen, Führungsämter zu übernehmen. Das entsprechende Kapitel heißt „Mein Traum: Frauen werden Staatschefs“.

„Rebellische Geister brauchen wir“

Das Buch ist zugleich ein Einblick in den persönlichen Werdegang des Lamas. Tenzin Gyatso schreibt über seine Flucht aus Tibet, das, was er von seiner Mutter mitbekommen hat und über sein Lernen über die Maximen der Französischen Revolution. Die Werte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, sieht er im Buddhismus genauso verankert. Er beschreibt auch sein Miterleben von Vorgängen in der Welt, selbst, wenn er nicht physisch dabei war, wie etwa beim Fall der Berliner Mauer.

Cover von "Der neue Appell des Dalai Lama an die Welt"

Buchhinweis

Dalai Lama: Der neue Appell des Dalai Lama an die Welt, 88 Seiten, Benevento Verlag, 2018, 7 Euro.

Während andere buddhistische Gelehrte sich hauptsächlich in Gelassenheit üben, betont der Autor die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen und den menschlichen Entwicklungen. Für ihn stellt die Gelassenheit nur einen von mehreren Aspekten der buddhistischen Grundlagen dar.

Weiterbestand der Erde nicht gesichert

Besonders problematisch sieht der Dalai Lama die Klimakatastrophe. Denn der heutigen Jugend sei nicht garantiert, gesund erwachsen zu werden. Aber auch hier sieht er Abhilfe: „Denn wenn wir imstande waren, all diese Probleme zu schaffen, dann ist es nur logisch, dass wir auch über Möglichkeiten verfügen, sie zu lösen.“ Aus der Sicht des Lamas braucht es dazu vor allem kollektive Intelligenz und Mitgefühl. Denn eine einzelne Plastikflasche erscheine nicht schlimm, jeden Tag würden aber Millionen Kilo Plastik in die Meere gekippt, schreibt der Dalai Lama und appelliert an das Bewusstsein für das eigene Handeln.

Der Buddhismus und die Physik

Tenzin Gyatso begründet seine Forderungen nach Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut mit Erkenntnissen der Quantenphysik. Die Zellen von Lebewesen vibrieren demzufolge im Einklang mit dem Universum. Er mahnt alle Menschen – nicht nur die Jugend – ihre universelle Verantwortung wahrzunehmen. So wie Gedanken, Handlungen und Worte eine Wirkung auf quasi das ganze System haben, könne jede und jeder als winziger Teil der sieben Milliarden Erdbewohner ihren oder seinen Beitrag leisten.

Ich bin wieder da

Liebe Freundinnen und Freunde, nach langer Zeit melde ich mich wieder. Ich habe in der Zwischenzeit viel zu tun gehabt, wie ihr von Bernd erfahren habt. Ich habe ich eine schwere Krankheit überstanden, und eine Halbseitenlähmung ist zurückgeblieben. Das Gehen und auch das Sprechen habe ich mühsam wieder gelernt. Und ich möchte gerne den Blog wieder aufnehmen. Erwartet bitte nicht, daß ich so viel schreiben werde wie früher, aber ich kann das Schreiben einfach nicht lassen und ich will das auch nicht. Wir werden sehen, wie das geht. Während der Zeit meiner Krankheit hat mein Hirn nicht besonders gut funktioniert, und die Beschäftigung mit dem Dharma und Buddhas Lehren ist in den Hintergrund getreten. Wer mich aber treu begleitet hat und immer noch begleitet, ist unsere Sangha in Wien, dafür danke ich meinen Freundinnen und Freunden sehr, mit denen ich schon seit längerer Zeit wieder gemeinsam meditiere. Geblieben ist mir die unglaubliche Freude, noch am Leben zu sein, und dass man ein Glas immer als halbvoll oder halbleer sehen kann.

„Erwachen“ – Hat das etwas mit mir zu tun?
Über Richard P. Boyles Buch: Realizing Awakened Consciousness

Als ich im Internet auf dieses relativ neue Buch gestoßen bin 1, war ich mehr als skeptisch. Da lassen sich Dharmalehrerinnen und -lehrer über ihre Erwachenserlebnisse interviewen? Traditiongemäß sind das doch Erfahrungen, die frau oder man für sich behält, wenn sie stattgefunden haben – darüber spricht man unter Buddhistinnen und Buddhisten nicht, zu groß scheint die Gefahr, sich ihrer zu rühmen, oder auch, den Eindruck zu erzeugen, es wäre nun ein endgültiger Zustand von Heiligmäßigkeit erreicht. Dann hat doch meine Neugier die Oberhand gewonnen, vor allem angesichts der Menge an prominenten Interviewparterinnen und -partnern des buch boyle.jpgAutors, und ich habe das Buch gelesen.   Richard Boyle war kognitiver Sozialwissenschafter und praktiziert seit 40 Jahren Zen. Für sein durch eigene Praxis genährtes Projekt, sich dem Wesen von „Erwachen“ aus wissenschaftlicher Sicht anzunähern, suchte er nach bekannten Lehrerinnen und Lehrern, möglichst aus verschiedenen buddhistischen Schulen, die bereit waren, über ihren persönlichen Weg im Buddhismus detailliert Auskunft zu geben. Er hat schließlich elf Personen interviewt, die Liste liest sich wie ein Who is Who von prominenten Dharmalehrerinnen und -lehrern der Gegenwart: Shinzen Young, John Tarrant, Ken McLeod, Ajahn Amaro, Martine Batchelor, Shaila Catherine, Gil Fronsdal, Stephen Batchelor, Pat Enkyo O’Hara, Bernie Glassman, Joseph Goldstein. Alle Gesprächspartner haben sich tief in die eigene Geschichte zurückversetzt und versucht, nachvollziehbar darüber zu erzählen. Mich hat dabei besonders beeindruckt, wie Lebenswege im praktischen und im übertragenen Sinn durch „Zufälligkeiten“ beschritten und weitergeführt worden sind: Ob eine Zen-Nonne oder ein anderer Vipassana-Praktizierender wurde, und wie sie dabei in Richtung streng klösterlichen Lebens oder großer Weltoffenheit geprägt wurden, war nicht immer bewusste eigene Wahl sondern Ergebnis dessen, wohin es sie „verschlagen“ hat (Martine Batchelor berichtet zum Beispiel, dass sie durch den Irrtum einer Airline nicht nach Japan, sondern nach Korea flog – in dem Kloster, wo sie dann ankam, blieb sie zehn Jahre lang). Beim Lesen ist meine Skepsis, ob man über „Erwachen“ reden solle und könne, bald verstummt. Nicht eine der interviewten Personen hat ein einziges, alles veränderndes Erleuchtungserlebnis präsentiert und herausgestrichen. Alle erzählen in ihren persönlichen Worten von Situationen der Klarheit, Auflösung des Selbst und Einsseins mit der Welt; das tun sie immer sehr zurückhaltend und mehrmals kommt der Hinweis, dass das nicht überschätzt werden sollte und danach das Leben einfach weitergehe.Richard P. Boyle Richard Boyle ist ohne Zweifel ein sehr einfühlsamer Interviewer, aber beim Aufschreiben dieser Erzählungen hat er es nicht bewenden lassen. In mehreren zusammenfassenden und allgemein interpretierenden Kapiteln hat er versucht, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner von „Awakened Consciousness“ zu finden. Eine seiner Schlußfolgerungen definiert drei deutlich wahrnehmbare Qualitäten, durch die sich erwachtes Bewusstsein vom Alltagsbewusstsein unterscheide:

  1. Keine Trennung von der Umgebung. Erwachtes Bewusstsein entsteht aus einer Perspektive, in der die Umgebung ein ganzes System ist, an dem wir als mehr oder weniger gleichgestelltes Mitglied teilhaben, und nicht aus der üblichen Perspektive mit dem Selbst als zentralem Fokus und Protagonisten, der entfernt von dem agiert, was ihn umgibt.
  2. Kein emotionales Anhaften an das Selbst oder an die soziale Realität. Wir können beobachten, was in der Welt vor sich geht und dementsprechend handeln, aber die emotionalen Verbindungen mit den selbst gemachten Geschichten, die üblicherweise diese Aktivität lenken, sind gekappt und wir folgen dem Fluß des Geschehens in Freiheit und Gleichmut.
  3. Achtsamkeit entsteht gleichzeitig mit Handeln in einem Prozess gegenseitiger Abhängigkeit. Das, was wir uns bewusst machen und das, womit wir uns in jedem Moment beschäftigen – beide Themen ergeben sich spontan und gleichzeitig aus unserer Interaktion mit der Umgebung.

Dies soll nur ein kleines Beispiel sein für Boyles Fähigkeit, bei aller Genauigkeit im Umgang mit den sehr verschiedenen Narrativen seiner Gesprächsparterinnen und -partner Gemeinsamkeiten aufzuspüren und zwar so, dass die „Durchschnittsbuddhistin“ und der „Duchschnittsbuddhist“ angeregt werden, sich dem Begriff des Erwachens anzunähern, ohne ihn zu dramatisieren, und vielleicht auch eigenen derartigen Erlebnissen Platz und Stellenwert in der persönlichen Geschichte zu geben, als inspirierenden Augenblicken von Klarheit, Einssein und „Flow“, ohne zu vergessen, dass das Leben danach wieder unspektakulär weitergeht.

  1. Richard P. Boyle, Realizing Awakened Consciousness, Interviews with Buddhist teachers and a new perspective on the mind, 2015. Auch als e-book erhältlich; es gibt bisher keine Übersetzung ins Deutsche.

Die fünfzehn Wahrheiten des Stephen Schettini

      1. Stephen Schettini lebte acht Jahre lang als buddhistischer Mönch in Indien und Sri Lanka, bis er die Robe ablegte. Er lebt nun als Laie in Kanada und betreibt den vielbesuchten Blog

http://www.thenakedmonk.com/

    1. Dessen Name stammt, wie er sagt, daher, dass er sich bei der Rückkehr ins Leben eines Laien ohne die Stütze der 2600 Jahre alten Institution nackt gefühlt habe.

SchettiniEr ist seit Jahrzehnten mit Stephen Batchelor befreundet, ein Gespräch der beiden findet sich auf Schettinis Blog. Auf dessen erster Seite habe ich diese 15 Wahrheiten gefunden, die hier, mit Schettinis Zustimmung von mir ins Deutsche übersetzt, folgen:

  1. Die Dinge in Frage zu stellen, an die du am ernsthaftesten glaubst, führt zu Frieden.
  2. Wahre Einsicht entsteht aus persönlicher Erfahrung, nicht aus Sprache, Schriften, Philosophie oder höherer Autorität.
  3. Das lohnendste Ziel im Leben ist es, die Hochachtung für die eigene Person durch praktische Empathie und kompromisslose Einsicht zu ersetzen.
  4. Wachse über die Erwartungen hinaus, die von anderen oder dir selbst an dich gestellt werden, und schau über das hinaus, was in deinem Leben täglich üblich ist. Sei bereit, bequeme Wahrheiten hinter dir zu lassen, um schließlich zu finden, wonach du suchst – auch wenn das bedeutet, etwas Unangenehmes zu entdecken.
  5. Wir haben einen Instinkt dafür, was richtig und falsch ist, schieben ihn aber beiseite, wenn es unangenehm wird.
  6. Was heute wahr ist, ist nicht unbedingt morgen wahr.
  7. Je stärker wir durch Emotion motiviert sind, desto hartnäckiger geben wir das als Vernunft aus.
  8. Leugnung liegt an der Wurzel allen selbstverschuldeten Leidens und ist unser größtes Hindernis.
  9. Ethische Normen erzeugen wahrscheinlich genausoviel Scheinheiligkeit wie Güte.
  10. An irgendetwas nur deshalb zu glauben, weil es Trost oder Sicherheit bringt, ist gefährlich, vor allem dann, wenn Gewissheit gefordert wird.
  11. Keinem religiös, wissenschaftlich oder akademisch Gläubigen kann man trauen, wenn er nicht über sich selbst lachen kann.
  12. Die Wahrheit respektiert man nur, indem man sie mit Vorsicht genießt.
  13. Das Leben führt nirgendwo hin, bis wir bewusst die Richtung einschlagen, in die es uns führt.
  14. Die Vorstellung, dass wir uns laufend verbessern, entweder durch Technologie oder durch Glauben, ist vielleicht der große Mythos unserer Zeit; das Gezänk über Wissenschaft und Religion ist einfach bedeutungslos.
  15. Die Suche nach Wahrheit hat mehr mit dem Loslassen von Sicherheit zu tun als damit, diese zu finden.

Über das Kranksein

Ich bin krank. Das wirft seit Wochen meine Programme über den Haufen: viele Ideen und Pläne musste ich zurückstellen, Aktivitäten sind nach und nach schwierig und dann unmöglich geworden. Bewegung und Sport im Freien gehen nicht mehr. Zeitweise starke Schmerzen und Schlaflosigkeit setzen mir zu. Für die Art meiner Krankheit kann ich dankbar sein, und bin es auch: mein linkes Hüftgelenk ist kaputt, der Termin für die Operation in 10 Tagen unter optimalen Bedingungen steht fest. „Ärmel aufkrempeln“ war mein erster Impuls, im Leben oft und auch erfolgreich geübt. Unter meinen persönlichen Bedingungen reicht das jetzt nicht mehr. Angesagt ist: genau das zu tun, was noch möglich ist und was Körper und Geist erlauben. Mit dem Auto fahren und nicht mit dem Rad, die meiste Zeit zuhause sitzen oder liegen, auf die Gartenarbeit im Frühling verzichten. Was geht? Also, beispielsweise einen Lieblingstext von mir herauszusuchen, zu bedenken und zu genießen: On being ill von Virginia Woolf 1:Virginia Woolf

Bedenkt man, wie allgemein Krankheit ist, wie gewaltig die geistige Veränderung, die sie bringt, wie erstaunlich die unentdeckten Länder sind, die sich erschließen, wenn das Licht der Gesundheit schwindet, welche Öden und Wüsten des Innern ein leichter Grippeanfall vor Augen führt, welche Abgründe und mit leuchtenden Blumen bestreute Wiesen ein leichter Anstieg der Temperatur offenbart, welche uralten, unbeugsamen Eichen durch das Ereignis der Krankheit in uns entwurzelt werden, wenn wir das alles bedenken, – und wir sind so häufig dazu gezwungen – dann erscheint es wahrlich seltsam, dass nicht die Krankheit mit der Liebe und dem Kampf und der Eifersucht zusammen ihren Platz eingenommen hat unter den Hauptthemen der Literatur. Aber nein; mit wenigen Ausnahmen tut die Literatur ihr möglichstes zur Wahrung des Anspruches, es gehe ihr um den Geist; der Körper sei eine klare Glasscheibe, durch welche die Seele klar und offen herausschaut, und sei, abgesehen von ein, zwei Leidenschaften wie Lust und Gier, null und nichtig und vernachlässigbar und nicht vorhanden. Nichtsdestotrotz, das genaue Gegenteil trifft zu. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch mischt sich der Körper ein; macht stumpf oder schärft, färbt oder macht farblos, wird in der Juniwärme zu Wachs, härtet sich im Februar düster zu Talg. Das Geschöpf drinnen kann nur durch die Scheibe starren – verschmutzt oder rosig, keinen einzigen Augenblick kann es sich vom Körper wie die Scheide vom Messer trennen oder wie die Schote von den Erbsen; es muss die ganze endlose Wechselfolge durchlaufen, Hitze und Kälte, Behagen und Unbehagen, Hunger und Sättigung, Gesundheit und Krankheit, bis die unausweichliche Katastrophe da ist: der Körper wird in tausend Stücke zerschmettert , und die Seele (so heißt es) entfleucht….

Ja, ich sehe Dinge anders als ich gewohnt bin: schärfer oder eben verschwommener. Ziele, an die ich gewohnt war, loszulassen, bedeutet auch Entlastung und den freien Blick auf Dinge, für die ich „keine Zeit“ hatte; das alles unter der privilegierten Bedingung der verläßlichen Annahme, dass die Krankheit in absehbarer Zeit vorbei sein wird. Und den Alltag nehme ich viel genauer: welche Bewegung lässt sich wie am schonendsten ausführen, und welche Tabletten tun mir wann gut? Achtsam zu sein schreibe ich mir jetzt nicht vor: es ergibt sich von selbst. Man muss die Krankheiten gewähren lassen schreibt mein hochgeschätzter Michel de Montaigne. Ihn plagten Nierensteine, und er schreibt, dass er besonders die schmerzfreien Situationen zu schätzen gelernt habe – ich kann es ihm nachvollziehen. Es geht um nichts anderes als: den Schmerz zu umarmen. montaigneMontaigne schreibt auch: wenn einem der Arzt nicht zusage, müsse man sich einen anderen besorgen. Da klingt doch die Kalama-Sutta an. Ich bin in der glücklichen Lage, dass mir meine Ärztinnen und Therapeuten zusagen, aber ich prüfe jede ihrer Empfehlungen, bevor ich sie umsetze. Pema Chödrön, eine US-amerikanische Lehrerin des tibetischen Buddhismus, hat sich aus eigener Betroffenheit sehr viel mit dem Umgang mit Krankheit auseinandergesetzt Sie litt an chronischer Müdigkeit und schrieb einem davon ebenfalls Betroffenen:

Der Schlüssel dazu, mit dem zu arbeiten, was so unerwünscht ist, liegt darin, die Ideen und Gedanken darüber loszulassen, dass wir doch nicht krank sein sollten und was mit uns geschehen wird, wenn wir krank bleiben. Wir müssen die Krankheit irgendwie respektieren, sie willkommen heissen, in sie eintreten. Wir geben nach und sagen, okay, was kann ich von dir lernen? Über das Loslassen von Kontrolle, über das Verlangsamen…über das Auskosten der vollen Erfahrung eines jeden Moments: des Lichts, des Klangs, der Qualität meiner Erfahrung, meines Schmerzes, der Anblick von Staub oder von Vögeln oder von nichts Besonderem…all das zu respektieren. Sie ist eine Art von Tod, diese Krankheit, und die beste Art von Tod, wenn wir sie einfach zulassen. Es ist der Tod alter eingefahrener Muster und Ansichten und Gewohnheiten und gibt Raum für etwas Neues, das in uns entstehen soll. Wirklich, du kannst dich drauf verlassen. Etwas Neues wird in dir entstehen, wenn du zulässt, dass die Krankheit dir zeigt, wo du den Griff lösen sollst. Und bitte schimpfe nie mit dir, wenn es dir manchmal misslingt.

Pema chödrön Na gut.

  1. zitiert aus: Virginia Woolf: Das große Lesebuch, hrsgg. als Fischer Taschenbuch Mai 2005

Der rechte Einsatz in Theorie und Praxis
Retreat mit Martine und Stephen Batchelor

Martine und Stephen Batchelor sind auch heuer für ein säkular-buddhistisches Retreat ins Buddhistische Zentrum nach Scheibbs gekommen, und dazu etwa 25 Frauen und Männer, die ihnen zuhören, miteinander meditieren, sprechen und schweigen wollen. Am Anfang kam die Frage, an welchen Themen uns Teilnehmerinnen und Teilnehmern gelegen sei. Beide haben den Begriff „right effort“ aufgegriffen, der rechte Einsatz 1, ein Teil des „achtfachen Pfades“, den zu gehen Buddha uns nahelegt. Martine, von der immer die praxisnahen Anleitungen für die Meditation kommen, empfiehlt uns, „effort“ nicht mit „effect“ zu verknüpfen. Beim Einsatz solle nicht sein Effekt im Vordergrund stehen, sondern – wie bei jeder Übung von Achtsamkeit in der Meditation oder außerhalb – gehe es um das Kultivieren dessen, was heilsam ist und uns gut tut; das könne auch sehr entspannend und freudvoll sein. Ohne Vergleiche anzustellen, können wir uns den Einsatz anderer Menschen und unseren eigenen Einsatz durch Mudita, Mitfreude, bewusster machen und ihn so kultivieren. Der Maßstab für unsere Praxis sei jedenfalls einzig, ob sie uns helfe, in unserem Alltag gut zu leben. Auch Stephen spricht über den rechten Einsatz. Er erinnert uns daran, dass der Begriff „effort“ landläufig mit heftiger Anstrengung bei zusammengebissenen Zähnen assoziiert werde. Für unsere Zwecke gehe es aber darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen Weisheit und Mitgefühl natürlich entstehen und wachsen können. Buddha spricht von vier Formen von Einsatz:

Fördere in dir den Wunsch, nicht entstandene reaktive Zustände zu vermeiden. Fördere den Wunsch, entstandene reaktive Zustände loszulassen. Fördere den Wunsch, heilsame Zustände, die noch nicht da sind, entstehen zu lassen. Fördere den Wunsch, heilsame Zustände, die schon da sind, aufrechtzuerhalten und auszudehnen.

Dabei sollten wir nichts unterdrücken, sondern uns Bedingungen schaffen, in denen reaktives Verhalten 2 unwahrscheinlicher wird. Reaktives Verhalten loszulassen könne in vielen Fällen einfach darin bestehen, gar nichts zu tun 3. Das klinge einleuchtend, sagt Stephen, aber immer noch recht abstrakt. Um es konkreter zu machen, zitiert er ausführlich den indischen Mönch Shantideva, der im 7. und 8. Jahrhundert u. Z. gelebt hat. Dessen „Führer für das Leben eines Bodhisattva“ hat Stephen vor vielen Jahren aus dem Tibetischen ins Englische übersetzt 4. In einem Kapitel geht es auch hier um den rechten Einsatz. Stephen spricht dabei lieber von „enthusiasm“ als von „effort“. Es geht ihm hier wie Shantideva vor allem um eines: was uns Freude macht, strengt uns nicht an, und das sollten wir kultivieren. Shantideva erinnert seine Leser an ihre Sterblichkeit. Unter diesem Aspekt sei die einzig wichtige Frage, worum es uns im Leben wirklich gehe. Sie sei Voraussetzung dafür, Enthusiasmus für das zu entwickeln, wozu wir uns berufen fühlten – und das habe dann nichts mit zusammengebissenen Zähnen zu tun, ergänzt Stephen. Wenn uns das gelinge, käme alles weitere von selbst: das Selbstbewusstsein, das aus der übernommenen Aufgabe entsteht, die Freude daran und schließlich auch das Wissen darüber, wann es notwendig sei, auszuruhen 5. Shantideva schreibt: wir sollten praktizieren wie Kinder, die zum Spielen nach draußen gehen. spielende Kinder Stephen zieht Parallelen zwischen den oben beschriebenen vier Formen von Einsatz und den vier Aufgaben, vor die Buddha uns stellt:

  1. Bedingungen herzustellen, unter denen reaktives Verhalten nicht entsteht, korrespondiere mit dem Umarmen von dukkha, der conditio humana
  2. um das Loslassen reaktiver Zustände gehe es hier wie dort
  3. Bedingungen zu schaffen, unter denen heilsame Zustände entstehen können, entspreche der Erfahrung dessen, dass Reaktivität aufhört
  4. heilsame Zustände aufrechtzuerhalten entspreche dem Kultivieren des Pfades

In diesem Zusammenhang spricht Stephen ausführlich über Nirvana. Obwohl es in anderer Bedeutung in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen sei, sei es nach seiner Interpretation ein Zustand, den wir alle kennen. Er zitiert aus einem Gespräch zwischen Buddha und dem Wandermönch Sivaka, der ihm die Frage stellt: Was meinst du damit, der Dharma sei hier und jetzt sichtbar, zeitlos, einladend, sachdienlich und für weise Menschen umsetzbar? Buddha antwortet mit einer Gegenfrage: Erkennst du in dir Gier, Hass, Verblendung, wenn sie auftreten? Erkennst du auch Zustände, wenn Gier, Hass, Verblendung nicht vorhanden sind? Sivaka beantwortet alle Fragen mit Ja6. Diese freien und offenen Zustände, in denen wir nicht von etwas getrieben sind, was wir dringend zu brauchen meinen, nennt Stephen Nirvana.

Nun, in diesem Sinn haben wir beim Retreat versucht, die heilsamen Bedingungen in uns und um uns zu fördern und die anderen zu reduzieren. Zur Pflege des einladenden Hauses beizutragen, uns an die Regeln zu halten, die es uns leichter machen sollen, auf begrenztem Raum gut zusammenzuleben, freundlich zu sein und einander nicht zu stören, auch wenn uns eine oder einer durch irgendetwas auf die Nerven geht, und uns beim Anstellen um das gute Essen nicht auf einen vorderen Platz zu drängeln.

  1. Diese Übersetzung von „sammā vāyāma“, engl. „right effort“ finde ich besser als Anstrengung“, „Bemühen“, oder auch „Streben“
  2. mit „reaktivem Verhalten“ ist einfach gemeint: sich in schwierigen Situationen ohne nachzudenken blindlings in Reaktionen nach eingefahrenen Mustern zu stürzen
  3. Samyutta Nikaya, Maggasamyutta 8
  4. s.: http://server.dream-fusion.net/jamchen/files/PDF%20Files/19361420-A-Guide-to-the-Bodhisattvas-Way-of-Life.pdf. Zum Nachlesen auf deutsch: Der Weg des Lebens zur Erleuchtung: Das Bodhicaryavatara von Shantideva, übersetzt von Ernst Steinkellner, erschienen in Diederichs Gelber Reihe. Eine andere – allerdings unvollständige – Übersetzung findet sich im Internet auf: www.berzinarchives.com/
  5. eine etwas genauere Darstellung von Shantidevas Worten dazu findet sich in unserem früheren Blog-Eintrag mit dem Titel: Stephen Batchelor über Shantidevas „Weg des Bodhisattva“
  6. Sanditthika Sutta, AN 6.47, http://www.accesstoinsight.org/tipitaka/an/an06/an06.047.than.html

Buddhismus und die Postmoderne
von Stephen Batchelor

Hier folgt die Übersetzung eines Artikels von Stephen Batchelor aus den 1990er Jahren. Der Diskurs über die Postmoderne ist seit damals abgeflaut; warum ich den Artikel historisch interessant finde, wird vielleicht beim Lesen deutlich. Vorerst einiges zur Begriffsklärung 1:

Prägend für den Begriff Postmoderne war Jean-Francois Lyotards Bericht Das postmoderne Wissen, in welchem er die philosophischen Systeme der Moderne für gescheitert erklärt. Bekannt wurde seine Rede vom Ende der großen Erzählungen, worin sich auch die Kernthese seiner Diagnose ausdrückt: Lyotard spricht nicht von philosophischen Systemen, sondern von „Erzählungen“. Die einzelnen modernen „Erzählungen“ legten, so Lyotard, der Welterklärung jeweils ein zentrales Prinzip zugrunde (z. B. Gott oder das Subjekt), um auf dieser Grundlage zu allgemeinen Aussagen zu kommen. Damit scheiden sie jedoch das Heterogene aus oder zwingen das Einzelne unter eine allgemeine Betrachtungsweise, welche gewaltsam dessen Besonderheiten einebnet. Lyotard setzt an die Stelle eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips (Gott, Subjekt, Vernunft, Systemtheorie, marxistische Gesellschaftstheorie etc.) eine Vielzahl von Sprachspielen, welche verschiedene „Erzählungen“, also Erklärungsmodelle anbieten. Lyotard wendet sich also nicht gegen Rationalität im Allgemeinen, sondern gegen eine bestimmte historische Form der Rationalität, die auf der Ausgrenzung des Heterogenen basiert. Die im Anschluss an Lyotard geführte Diskussion um die Epochendiagnose der Postmoderne, die in den 1980er Jahren sehr intensiv und mit großer Aufmerksamkeit in der intellektuellen Öffentlichkeit geführt wurde, ist seit 1989 erlahmt oder verlagerte sich auf andere Gebiete…

Zu dieser Diskussion nimmt Stephen Batchelor im folgenden Artikel Stellung 2:

Einer postmodernen Welt, für die die Pluralität und Vieldeutigkeit der Wahrnehmung, die bruchstückhafte und bedingte Natur der Wirklichkeit, die flüchtige und unbestimmte Natur des Selbst und die Beliebigkeit, Unverläßlichkeit und Angst der menschlichen Existenz selbstverständlich sind, scheint der Buddhismus wie ein Handschuh zu passen. Das ist aber nichts Neues. Befürworter des Buddhismus im Westen seit Schopenhauer waren von der Vereinbarkeit der Lehren des Buddhismus mit ihrer eigenen Weltsicht beeindruckt. Kantianer sahen im Buddhismus die Ansichten Kants , Immanuel KantBertrand Russell Jacques DerridaVertreter des Logischen Positivismus jene von Bertrand Russell

und heutige Vertreter des Dekonstruktivismus die von Jacques Derrida.

Während der letzten hundert Jahre haben die Lehren des Buddha gleichermaßen die Ansichten von Theosophen, Faschisten, Umweltschützern und Quantenphysikern bestätigt. Ist also der Buddhismus bloß ein exotischer Morast unvereinbarer Vorstellungen, ein „Babylon der Lehren“, wie Matteo Ricci, ein Missionar des 16. Jahrhunderts, argwöhnte? Oder ist das eine andere Illustration von Buddhas Parabel vom Elefanten, den blinde Männer als Säule, Wand, Seil oder Röhre bezeichnen, je nachdem, welchen Teil der Anatomie des Tieres sie berühren? Es mag so viele Arten von Buddhismus geben, wie es für den Geist von Menschen des Westens Formen gibt, ihn zu begreifen. In jedem Fall bedeutet „Buddhismus“ etwas anderes. Aber was ist er wirklich? Die Antwort: nichts, worauf du deinen Finger legen kannst. Den Elefanten in Zeit oder Raum festzumachen, bedeutet, ihn zu töten.Der Elefant ist sowohl leer als auch verwirrend. Er atmet und bewegt sich – auf eine Art, die niemand vorhersehen kann.

Diese Liquidität hat es dem Buddhismus während seiner ganzen Geschichte möglich gemacht, kulturelle Grenzen zu überschreiten und sich kreativ an Situationen anzupassen, die von denen in seinem Ursprungsland, dem indischen Subkontinent, sehr verschieden waren. (Das bemerkenswerteste Beispiel dafür ist seine Ausbreitung in China vor fast 2000 Jahren). Dieser kreative Prozess erfordert, dass Buddhismus sich selbst als etwas versteht, was einen Unterschied macht. Es bedeutet, Elemente der neuen Gastkultur, die mit ihm vereinbar sind, anzunehmen und gleichzeitig Elemente dieser Kultur zu kritisieren, die mit den eigenen buddhistischen Werten nicht übereinstimmen. Es überrascht also kaum, dass heutige Buddhistinnen und Buddhisten instinktiv die Elemente der Postmoderne herausgreifen, die in Einklang mit ihrem eigenen Verständnis des Dharma stehen. Die Gefahr liegt darin, dass sie, um ‚relevant‘ zu erscheinen, das gleichermaßen wesentliche Bedürfnis opfern, eine klare und kritische Perspektive aufrechtzuerhalten.

Das Element der Postmoderne, das buddhistischen Stimmen potentiell Zugang zur zeitgenössischen Kultur verspricht, ist impliziert in Jean-Francois Lyotards vereinfachender, aber wegweisender Definition von ‚postmodern‘ als ‚ großen Narrativen gegenüber ungläubig‘.

LyotardDas größte all dieser großen Narrative ist für Lyotard das Projekt der europäischen Aufklärung selbst: die Sicherheit menschlichen Fortschritts durch Vernunft und Wissenschaft, ein Narrativ, das im 18. Jahrhundert begann.

Sobald die Überzeugung von diesem Mythos ins Schwanken kommt, wird eine Schar von anderen Annahmen in Frage gestellt. Indem sie sich mehr auf Wandel und Unsicherheit als auf garantierte Kontinuität konzentrierten, indem sie Bedingtheit, Ambivalenz und Vielfalt betonten, haben postmoderne Denker Stimmen der Anderen zu hören begonnen: jener, die das Projekt der Aufklärung unterdrückt, ignoriert oder geringgeschätzt hat: Frauen, Bewohnerinnen und Bewohner der Dritten Welt, nicht-europäische Systeme wie den Budhismus.

Wenn ich gelehrte Texte über Themen wie die Natur des ‚Selbst‘ lese, in denen Gedanken erkundet werden, die mir als Buddhisten sehr vertraut sind, stelle ich fest, dass sie sich nicht einmal beiläufig darauf beziehen, dass diese Art von Analyse und Diskurs in Asien seit über zweitausend Jahren betrieben worden ist. Bei solchen Gelegenheiten empfinde ich, was Frauen beim Lesen von Texten, die unbekümmert eine männliche Perspektive als Norm ansehen, empfinden müssen.Die Gewohnheit, den ‚Osten‘ als das Andere zu behandeln, ist ein tiefsitzender Zug bei Europäern, der mindestens bis auf Euripides zurückgeht und sogar von postmodernen Autoren in ironischer Weise weitergeführt wird. Doch es gibt Zeichen von Veränderung. Nach der üblichen eurozentrischen Analyse schließt Galen Strawson kürzlich einen Artikel ‚Die Empfindung des Selbst‘: ‚Vielleicht könnte die beste Darstellung der Existenz eines Selbst von bestimmten Buddhisten gegeben werden.‘ Man beachte das Zögern: ‚vielleicht‘, ‚könnte‘, ‚bestimmte Buddhisten‘ (natürlich nicht alle).

Welche Anteile der Postmoderne auch immer im Buddhismus aufscheinen mögen: es wäre lächerlich, buddhistisches Gedankengut als ‚postmodern‘ zu beschreiben – aus dem einfachen Grund, weil der Buddhismus nie eine Phase der Moderne durchlaufen hat, von der er ‚post‘ sein könnte. Buddhistische Kulturen haben sich in Übereinstimmung mit dem großen Narrativ ihres eigenen Aufklärungsprojekts entwickelt. Infolgedessen können in der Art, wie der Buddhismus der zeitgenössischen Kultur im Westen begegnet, zwei deutliche, aber einander widersprechende Trends gesehen werden.

Auf der einen Seite: indem sie den Zusammenbruch der großen Narrative des Westens wahrnehmen, könnten Buddhisten versuchen, diese durch ihr eigenes großes Narrativ von der Erleuchtung zu ersetzen. Das wird in den ausgewiesenen Zielen von mindestens zwei der erfolgreichsten buddhistischen Bewegungen im heutigen England ausgedrückt: die ‚Friends of the Western Buddhist Order‘ (FBWO), die die Schaffung einer ‚Neuen Gesellschaft‘ auf den Grundlagen buddhistischer Werte anstreben, und ‚Soka Gakkai International‘ (SGI), die danach streben, ‚Kosen Rufu‘ zu verwirklichen – die weltweite Ausbreitung des Buddhismus von Nichiren Daishonin. Obwohl beide Organisationen zeitgenössische reformierte buddhistische Bewegungen sind, bleiben sie aus der Perspektive der Postmoderne beschränkt auf den sie legitimierenden Mythos eines großen Narrativs, das universelle Emanzipation verspricht. Wenn ein wesentlicher Zug unserer Zeit tatsächlich darin besteht, dass solche Narrative weithin ihre Glaubwürdigkeit verloren haben und nicht mehr imstande sind, Konsens zu erzwingen, dann dürften solche Bestrebungen zum Scheitern verurteilt sein.

Aber andererseits: wenn Buddhistinnen und Buddhisten mit der postmodernen Ungläubigkeit großen Narrativen gegenüber sympathisieren, könnten sie sich verpflichtet sehen, sich eine völlig andere Art von Buddhismus vorzustellen. Sie werden dann versuchen, die Hauptmetaphern buddhistischer Tradition im Licht der Postmoderne neu zu artikulieren. Eine Einstellung der Ungläubigkeit würde eher zur Metapher einer Wildnis passen als zu der eines Pfades, mit den Möglichkeiten unbegrenzter Landschaft im Gegensatz zur sicheren Begrenzung einer Straße.

Der Schlüsselbegriff eines solchen Unternehmens wäre ‚Leere‘. Damit haben wir nämlich einen Begriff, der wie die Postmoderne tiefes Mißtrauen gegenüber einem einzelnen, nicht bruchstückhaften Selbst hegt und darüber hinaus gegen alles von transzendentaler Bedeutung, wie Gott oder Geist. ‚Leere‘ ist positiv verknüpft mit dem Verschwinden des Selbst, dem endlos hinausgeschobenen Spiel mit der Sprache und der vielschichtigen und bedingten Natur der Dinge. Auch in anderer Hinsicht zeigt dieser Begriff Verwandtschaft mit dem aktuellen Diskurs der Postmoderne. Meditation über Leere ist nicht bloß eine intellektuelle Übung, sondern eine kontemplative Disziplin, die in ethischer Verpflichtung zu Gewaltlosigkeit wurzelt. ‚Leere‘ beschreibt nicht nur in unsentimentaler Sprache die Art, wie sich die Realität entfaltet, sondern bietet auch einen therapeutischen Zugang zum Dilemma menschlicher Angst.

Vertreter der Lehre von der Leere unterlagen – zumindest seit Nagarjunas Zeiten – derselben Art von Kritik, der postmoderne Denker heute ausgesetzt sind. Beide wurden des Nihilismus und des Relativismus beschuldigt und es wurde ihnen vorgeworfen, die Grundlagen für Moral und religiösen Glauben zu untergraben. Und das nicht nur von Nicht-Buddhisten; der Begriff der Leere wird auch innerhalb der buddhistischen Tradition noch immer kritisiert. In der Geschichte des Begriffs der Leere ging es darum, zu demonstrieren, dass er eine ethische und authentische Lebensweise keineswegs untergräbt, sondern dass eine solche Lebensweise überhaupt erst realisiert wird, wenn man sich den Implikationen der Leere stellt.

Die Leere des Selbst, zum Beispiel, bedeutet nicht, individuelle Einzigartigkeit abzulehnen, sondern die Leugnung irgendeiner beständigen, ungeteilten und transzendenten Basis für Individualität. Die Angst und Unsicherheit der menschlichen Existenz wird durch den vorbegrifflichen, krampfartigen Griff, in dem solche Annahmen über Transzendenz uns festhalten, nur verschärft. Während er Sicherheit inmitten einer unvorhersagbaren und vergänglichen Welt zu bieten scheint, erzeugt dieser Griff paradoxerweise ängstliche Entfremdung von den Prozessen des Lebens selbst. Das Ziel buddhistischer Meditationen über Wandel, Unsicherheit und Leere besteht darin, Hilfe beim Verständnis dieser Dimensionen der Existenz zu bieten und so sanft zur Lockerung des Griffs zu führen.

Wenn wir uns der sinnlichen Unmittelbarkeit der Erfahrung aufmerksam zuwenden, stellen wir fest, wie wir von einer verwirrenden Matrix von Bedingtheiten, die laufend entstehen und vergehen, geschaffen, geformt und gestaltet sind. Wenn wir darüber nachdenken, sehen wir, wie wir geprägt sind: vom Muster der DNA, die von unseren Eltern stammt, dem Feuern von hundert Milliarden Neuronen in unserem Gehirn, den kulturellen und historischen Konditionierungen des zwanzigsten Jahrhunderts, der Erziehung und Bildung, die uns vermittelt worden sind, allen Erfahrungen, die wir jemals gemacht haben und allen Wahlen, die wir jemals getroffen haben. Diese Prozesse vereinen sich zur Gestaltung der unwiederholbaren Flugbahn, die in diesem gegenwärtigen Moment kulminiert. Was jetzt da ist, ist der einzigartige, aber veränderliche Eindruck, den all das hinterlassen hat, den ich ‚Ich‘ nenne.

Darüber hinaus nährt die schrittweise Auflösung einer transzendentalen Basis für das Selbst eine empathische Beziehung mit anderen. Der Griff des Selbst führt nicht nur zu Entfremdung, sondern macht einen auch den Qualen anderer gegenüber gefühllos. Tief empfundenen Anerkennung unserer eigenen Bedingtheit ermöglicht uns, unsere Verbundenheit mit anderen in gleicher Weise bedingten Lebensformen zu verstehen. Wir stellen fest, dass wir nicht isolierte Elemente sind, sondern Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Erschaffen einer anhaltenden, gemeinsamen Wirklichkeit.

Eine postmoderne Perspektive würde den mythischen Status von Buddhismus und Agnostizismus in Frage stellen. Mit dem Loslassen von ‚Buddhismus‘ als großem, umfassenden Narrativ, das alles erklärt, befreien wir uns für einen Weg der Entfaltung unserer eigenen Individuation im Kontext bestimmter lokaler und globaler Gemeinschaften. In diesem Prozess könnten wir herausfinden, dass auch wir Narrative sind: jeder von uns erzählt seine einzigartige Geschichte, die mit den Geschichten anderer unentwirrbar verwoben ist. Wir errichten dann nicht totalitäre, hierarchische Institutionen, um unsere großen Narrative in Stein zu meißeln, sondern wir halten Ausschau nach fantasievollen, demokratischen Gemeinschaften, in denen wir unsere eigenen petits recits verwirklichen können: kleine Narrative.

Eine solche Sichtweise ist unvermeidlich pluralistisch. Buddhismus sieht sich dann nicht mehr in Opposition zu anderen großen Narativen, die ihm zu widersprechen oder ihn zu bedrohen scheinen, sondern erinnert sich daran, wie er sich in seinen vitalen Perioden aus seinen Interaktionen mit ihm fremden Religionen, Philosophien und Kulturen entwickelt hat. Das erinnert einen an das traditionelle Hua-Yen Bild des juwelenbesetzten Netzes von Indra.Indras Netz

Das unermessliche kosmische Netz, an dessen Schnittstellen ein Edelstein sitzt, der alle anderen Edelsteine reflektiert. Heute liegt es nahe, dass das Netz die Biosphäre selbst darstellt: dieses unermessliche verflochtene Netz lebender Systeme, die einander zu einem wunderbaren Ganzen verstärken.

  1. aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Postmoderne
  2. : Buddhism and PostModernity, nachzulesen auf seiner Website: www.stephenbatchelor.org; dt. Übersetzung mit Zustimmung des Autors von Evamaria Glatz

Hinschauen, handeln

Wir kennen die Bilder, die Zeitungsmeldungen, die Dokus und Kommentare zur politischen Situation in Europa und den angrenzenden Kontinenten Asien und Afrika. Die Meldungen werden im Tagesrhythmus verstörender und beängstigender. Die Regierenden Europas haben keinen gemeinsamen Plan für den Umgang mit der Tatsache, dass auf einmal nicht mehr nur das Geld frei fließt, sondern auch Menschen mobil geworden sind, weil sie ihre Lebensumstände in Krieg und Zerstörung, wegen Landraubs oder klimatischer Veränderungen nicht mehr ertragen können. FlüchtlingeWir Durchschnittsbürgerinnen und -bürger nehmen all das wahr und haben auch keinen Plan. Wenn ich mir selber zusehe und nachspüre: da ist Mitgefühl mit durchnässten, erschöpften Frauen, Männern und Kindern in Schlauchbooten und gleichzeitig mit den Menschen auf Lampedusa oder Lesbos, die, viele von ihnen selber arm, in jeder Hinsicht überfordert sind. Ich sehe mir Bilder von Kriegsschauplätzen in Syrien und Afghanistan an, Dokumentarfilme über Flüchtlingslager oder über Landraub, der den Menschen ihre Lebensgrundlagen entzieht. Dazu fühle ich mich einerseits „verpflichtet“, andererseits verstärkt es mein Gefühl, hilflos zu sein. Und Angst ist auch in mir: um die eingespielten Strukturen des geordneten alten Europa, wo ich mein bisheriges Leben abgesichert verbracht habe, und natürlich davor, dass mangels eines Plans der ganze Kontinent mit wachsender Beschleunigung den Bach runtergehen könnte. Vielleicht tut er das – die Wahrscheinlichkeit wächst, wie ich meine. Was können wir in naher Zukunft erwarten? Flüchtlinge werden weiterhin Wege nach Europa finden, sie werden nehmen, was sie kriegen können, viele von ihnen, traumatisiert, arm und ohne Ausbildung, auch mit Gewalt. Die Regierenden Europas werden in absehbarer Zeit nicht angemessen und vor allem nicht einheitlich reagieren können. Unser Kontinent wird instabiler werden; die Angst davor wird viele seiner Einwohner in Radikalität treiben. Bevor die Lage besser wird, wird sie wohl noch viel unübersichtlicher, polarisierter, bedrohlicher werden. Beim Nachdenken bin ich wieder auf die große alte Buddhistin, politische Denkerin und Umweltaktivistin Joanna Macy gestoßen 1. Unverblümt und direkt sagt sie uns mit ihren 86 Jahren noch immer: schaut hin. Die Welt ist wirklich in schlimmem Zustand, und sie ist das, weil Menschen so oft außerstande sind, sich dem zu stellen, was weh tut. Sie schreibt:

Die lebenserhaltenden Systeme für menschliche wie für nichtmenschliche Wesen werden zerstört. Die Angst, mit der viele Menschen darauf reagieren, macht sie unzugänglich. Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißt, wenn wir es uns erlauben, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir es aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern dass dieser Schmerz weit hinausgeht über das kleine Ego und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse liegen.

Da sind wir Buddhistinnen und Buddhisten – säkular oder nicht – wieder beim Thema „Selbst“. Wenn wir ernst nehmen, dass jede Abgrenzung zwischen dir und mir eine Fiktion ist, weil wir gemeinsam Teile derselben sich laufend verändernden Welt sind, dann können wir nicht einfach nur hinnehmen, dass Politiker, von Angst getrieben, unseren Kontinent einzäunen. Gute Bekannte von mir wohnen in einem Eigenheim am Land. Sie haben, wie sie schon länger geplant hatten, ihr Auto verkauft und in ihrer Dorfgemeinschaft ein Car-Sharing-Projekt ins Leben gerufen. Ihre Garage haben sie zu einer kleinen Wohnung umgebaut, und dort ist vor ein paar Tagen eine vierköpfige Familie aus Afghanistan eingezogen. Keiner von ihnen spricht ein Wort deutsch, die Kinder im Volksschulalter werden gerade eingeschult. Es gab und gibt Ängste, wie das Zusammenleben laufen kann – es entwickelt sich gerade erst. Schmerz umarmen. Wenn wir Buddhas Wort ernst nehmen, bleibt uns nichts anderes übrig, als hinzuschauen, und zwar genau, und zu handeln, wo und wie es uns möglich ist.

  1. Über sie und ihre Arbeit gibt es zwei frühere Blog-Einträge auf dieser Website. Ein recht neues, sehr ermutigendes Video findet sich unter: https://www.youtube.com/watch?v=mrCPVtf0bWA.