Warning: Undefined variable $open_graphite_head in /home/.sites/587/site434/web/wp-content/plugins/open-graphite/_open_graphite.php on line 619 Buddhismus und die Postmoderne von Stephen Batchelor – Säkularer Buddhismus

Buddhismus und die Postmoderne
von Stephen Batchelor

Hier folgt die Übersetzung eines Artikels von Stephen Batchelor aus den 1990er Jahren. Der Diskurs über die Postmoderne ist seit damals abgeflaut; warum ich den Artikel historisch interessant finde, wird vielleicht beim Lesen deutlich. Vorerst einiges zur Begriffsklärung 1:

Prägend für den Begriff Postmoderne war Jean-Francois Lyotards Bericht Das postmoderne Wissen, in welchem er die philosophischen Systeme der Moderne für gescheitert erklärt. Bekannt wurde seine Rede vom Ende der großen Erzählungen, worin sich auch die Kernthese seiner Diagnose ausdrückt: Lyotard spricht nicht von philosophischen Systemen, sondern von „Erzählungen“. Die einzelnen modernen „Erzählungen“ legten, so Lyotard, der Welterklärung jeweils ein zentrales Prinzip zugrunde (z. B. Gott oder das Subjekt), um auf dieser Grundlage zu allgemeinen Aussagen zu kommen. Damit scheiden sie jedoch das Heterogene aus oder zwingen das Einzelne unter eine allgemeine Betrachtungsweise, welche gewaltsam dessen Besonderheiten einebnet. Lyotard setzt an die Stelle eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips (Gott, Subjekt, Vernunft, Systemtheorie, marxistische Gesellschaftstheorie etc.) eine Vielzahl von Sprachspielen, welche verschiedene „Erzählungen“, also Erklärungsmodelle anbieten. Lyotard wendet sich also nicht gegen Rationalität im Allgemeinen, sondern gegen eine bestimmte historische Form der Rationalität, die auf der Ausgrenzung des Heterogenen basiert. Die im Anschluss an Lyotard geführte Diskussion um die Epochendiagnose der Postmoderne, die in den 1980er Jahren sehr intensiv und mit großer Aufmerksamkeit in der intellektuellen Öffentlichkeit geführt wurde, ist seit 1989 erlahmt oder verlagerte sich auf andere Gebiete…

Zu dieser Diskussion nimmt Stephen Batchelor im folgenden Artikel Stellung 2:

Einer postmodernen Welt, für die die Pluralität und Vieldeutigkeit der Wahrnehmung, die bruchstückhafte und bedingte Natur der Wirklichkeit, die flüchtige und unbestimmte Natur des Selbst und die Beliebigkeit, Unverläßlichkeit und Angst der menschlichen Existenz selbstverständlich sind, scheint der Buddhismus wie ein Handschuh zu passen. Das ist aber nichts Neues. Befürworter des Buddhismus im Westen seit Schopenhauer waren von der Vereinbarkeit der Lehren des Buddhismus mit ihrer eigenen Weltsicht beeindruckt. Kantianer sahen im Buddhismus die Ansichten Kants , Immanuel KantBertrand Russell Jacques DerridaVertreter des Logischen Positivismus jene von Bertrand Russell

und heutige Vertreter des Dekonstruktivismus die von Jacques Derrida.

Während der letzten hundert Jahre haben die Lehren des Buddha gleichermaßen die Ansichten von Theosophen, Faschisten, Umweltschützern und Quantenphysikern bestätigt. Ist also der Buddhismus bloß ein exotischer Morast unvereinbarer Vorstellungen, ein „Babylon der Lehren“, wie Matteo Ricci, ein Missionar des 16. Jahrhunderts, argwöhnte? Oder ist das eine andere Illustration von Buddhas Parabel vom Elefanten, den blinde Männer als Säule, Wand, Seil oder Röhre bezeichnen, je nachdem, welchen Teil der Anatomie des Tieres sie berühren? Es mag so viele Arten von Buddhismus geben, wie es für den Geist von Menschen des Westens Formen gibt, ihn zu begreifen. In jedem Fall bedeutet „Buddhismus“ etwas anderes. Aber was ist er wirklich? Die Antwort: nichts, worauf du deinen Finger legen kannst. Den Elefanten in Zeit oder Raum festzumachen, bedeutet, ihn zu töten.Der Elefant ist sowohl leer als auch verwirrend. Er atmet und bewegt sich – auf eine Art, die niemand vorhersehen kann.

Diese Liquidität hat es dem Buddhismus während seiner ganzen Geschichte möglich gemacht, kulturelle Grenzen zu überschreiten und sich kreativ an Situationen anzupassen, die von denen in seinem Ursprungsland, dem indischen Subkontinent, sehr verschieden waren. (Das bemerkenswerteste Beispiel dafür ist seine Ausbreitung in China vor fast 2000 Jahren). Dieser kreative Prozess erfordert, dass Buddhismus sich selbst als etwas versteht, was einen Unterschied macht. Es bedeutet, Elemente der neuen Gastkultur, die mit ihm vereinbar sind, anzunehmen und gleichzeitig Elemente dieser Kultur zu kritisieren, die mit den eigenen buddhistischen Werten nicht übereinstimmen. Es überrascht also kaum, dass heutige Buddhistinnen und Buddhisten instinktiv die Elemente der Postmoderne herausgreifen, die in Einklang mit ihrem eigenen Verständnis des Dharma stehen. Die Gefahr liegt darin, dass sie, um ‚relevant‘ zu erscheinen, das gleichermaßen wesentliche Bedürfnis opfern, eine klare und kritische Perspektive aufrechtzuerhalten.

Das Element der Postmoderne, das buddhistischen Stimmen potentiell Zugang zur zeitgenössischen Kultur verspricht, ist impliziert in Jean-Francois Lyotards vereinfachender, aber wegweisender Definition von ‚postmodern‘ als ‚ großen Narrativen gegenüber ungläubig‘.

LyotardDas größte all dieser großen Narrative ist für Lyotard das Projekt der europäischen Aufklärung selbst: die Sicherheit menschlichen Fortschritts durch Vernunft und Wissenschaft, ein Narrativ, das im 18. Jahrhundert begann.

Sobald die Überzeugung von diesem Mythos ins Schwanken kommt, wird eine Schar von anderen Annahmen in Frage gestellt. Indem sie sich mehr auf Wandel und Unsicherheit als auf garantierte Kontinuität konzentrierten, indem sie Bedingtheit, Ambivalenz und Vielfalt betonten, haben postmoderne Denker Stimmen der Anderen zu hören begonnen: jener, die das Projekt der Aufklärung unterdrückt, ignoriert oder geringgeschätzt hat: Frauen, Bewohnerinnen und Bewohner der Dritten Welt, nicht-europäische Systeme wie den Budhismus.

Wenn ich gelehrte Texte über Themen wie die Natur des ‚Selbst‘ lese, in denen Gedanken erkundet werden, die mir als Buddhisten sehr vertraut sind, stelle ich fest, dass sie sich nicht einmal beiläufig darauf beziehen, dass diese Art von Analyse und Diskurs in Asien seit über zweitausend Jahren betrieben worden ist. Bei solchen Gelegenheiten empfinde ich, was Frauen beim Lesen von Texten, die unbekümmert eine männliche Perspektive als Norm ansehen, empfinden müssen.Die Gewohnheit, den ‚Osten‘ als das Andere zu behandeln, ist ein tiefsitzender Zug bei Europäern, der mindestens bis auf Euripides zurückgeht und sogar von postmodernen Autoren in ironischer Weise weitergeführt wird. Doch es gibt Zeichen von Veränderung. Nach der üblichen eurozentrischen Analyse schließt Galen Strawson kürzlich einen Artikel ‚Die Empfindung des Selbst‘: ‚Vielleicht könnte die beste Darstellung der Existenz eines Selbst von bestimmten Buddhisten gegeben werden.‘ Man beachte das Zögern: ‚vielleicht‘, ‚könnte‘, ‚bestimmte Buddhisten‘ (natürlich nicht alle).

Welche Anteile der Postmoderne auch immer im Buddhismus aufscheinen mögen: es wäre lächerlich, buddhistisches Gedankengut als ‚postmodern‘ zu beschreiben – aus dem einfachen Grund, weil der Buddhismus nie eine Phase der Moderne durchlaufen hat, von der er ‚post‘ sein könnte. Buddhistische Kulturen haben sich in Übereinstimmung mit dem großen Narrativ ihres eigenen Aufklärungsprojekts entwickelt. Infolgedessen können in der Art, wie der Buddhismus der zeitgenössischen Kultur im Westen begegnet, zwei deutliche, aber einander widersprechende Trends gesehen werden.

Auf der einen Seite: indem sie den Zusammenbruch der großen Narrative des Westens wahrnehmen, könnten Buddhisten versuchen, diese durch ihr eigenes großes Narrativ von der Erleuchtung zu ersetzen. Das wird in den ausgewiesenen Zielen von mindestens zwei der erfolgreichsten buddhistischen Bewegungen im heutigen England ausgedrückt: die ‚Friends of the Western Buddhist Order‘ (FBWO), die die Schaffung einer ‚Neuen Gesellschaft‘ auf den Grundlagen buddhistischer Werte anstreben, und ‚Soka Gakkai International‘ (SGI), die danach streben, ‚Kosen Rufu‘ zu verwirklichen – die weltweite Ausbreitung des Buddhismus von Nichiren Daishonin. Obwohl beide Organisationen zeitgenössische reformierte buddhistische Bewegungen sind, bleiben sie aus der Perspektive der Postmoderne beschränkt auf den sie legitimierenden Mythos eines großen Narrativs, das universelle Emanzipation verspricht. Wenn ein wesentlicher Zug unserer Zeit tatsächlich darin besteht, dass solche Narrative weithin ihre Glaubwürdigkeit verloren haben und nicht mehr imstande sind, Konsens zu erzwingen, dann dürften solche Bestrebungen zum Scheitern verurteilt sein.

Aber andererseits: wenn Buddhistinnen und Buddhisten mit der postmodernen Ungläubigkeit großen Narrativen gegenüber sympathisieren, könnten sie sich verpflichtet sehen, sich eine völlig andere Art von Buddhismus vorzustellen. Sie werden dann versuchen, die Hauptmetaphern buddhistischer Tradition im Licht der Postmoderne neu zu artikulieren. Eine Einstellung der Ungläubigkeit würde eher zur Metapher einer Wildnis passen als zu der eines Pfades, mit den Möglichkeiten unbegrenzter Landschaft im Gegensatz zur sicheren Begrenzung einer Straße.

Der Schlüsselbegriff eines solchen Unternehmens wäre ‚Leere‘. Damit haben wir nämlich einen Begriff, der wie die Postmoderne tiefes Mißtrauen gegenüber einem einzelnen, nicht bruchstückhaften Selbst hegt und darüber hinaus gegen alles von transzendentaler Bedeutung, wie Gott oder Geist. ‚Leere‘ ist positiv verknüpft mit dem Verschwinden des Selbst, dem endlos hinausgeschobenen Spiel mit der Sprache und der vielschichtigen und bedingten Natur der Dinge. Auch in anderer Hinsicht zeigt dieser Begriff Verwandtschaft mit dem aktuellen Diskurs der Postmoderne. Meditation über Leere ist nicht bloß eine intellektuelle Übung, sondern eine kontemplative Disziplin, die in ethischer Verpflichtung zu Gewaltlosigkeit wurzelt. ‚Leere‘ beschreibt nicht nur in unsentimentaler Sprache die Art, wie sich die Realität entfaltet, sondern bietet auch einen therapeutischen Zugang zum Dilemma menschlicher Angst.

Vertreter der Lehre von der Leere unterlagen – zumindest seit Nagarjunas Zeiten – derselben Art von Kritik, der postmoderne Denker heute ausgesetzt sind. Beide wurden des Nihilismus und des Relativismus beschuldigt und es wurde ihnen vorgeworfen, die Grundlagen für Moral und religiösen Glauben zu untergraben. Und das nicht nur von Nicht-Buddhisten; der Begriff der Leere wird auch innerhalb der buddhistischen Tradition noch immer kritisiert. In der Geschichte des Begriffs der Leere ging es darum, zu demonstrieren, dass er eine ethische und authentische Lebensweise keineswegs untergräbt, sondern dass eine solche Lebensweise überhaupt erst realisiert wird, wenn man sich den Implikationen der Leere stellt.

Die Leere des Selbst, zum Beispiel, bedeutet nicht, individuelle Einzigartigkeit abzulehnen, sondern die Leugnung irgendeiner beständigen, ungeteilten und transzendenten Basis für Individualität. Die Angst und Unsicherheit der menschlichen Existenz wird durch den vorbegrifflichen, krampfartigen Griff, in dem solche Annahmen über Transzendenz uns festhalten, nur verschärft. Während er Sicherheit inmitten einer unvorhersagbaren und vergänglichen Welt zu bieten scheint, erzeugt dieser Griff paradoxerweise ängstliche Entfremdung von den Prozessen des Lebens selbst. Das Ziel buddhistischer Meditationen über Wandel, Unsicherheit und Leere besteht darin, Hilfe beim Verständnis dieser Dimensionen der Existenz zu bieten und so sanft zur Lockerung des Griffs zu führen.

Wenn wir uns der sinnlichen Unmittelbarkeit der Erfahrung aufmerksam zuwenden, stellen wir fest, wie wir von einer verwirrenden Matrix von Bedingtheiten, die laufend entstehen und vergehen, geschaffen, geformt und gestaltet sind. Wenn wir darüber nachdenken, sehen wir, wie wir geprägt sind: vom Muster der DNA, die von unseren Eltern stammt, dem Feuern von hundert Milliarden Neuronen in unserem Gehirn, den kulturellen und historischen Konditionierungen des zwanzigsten Jahrhunderts, der Erziehung und Bildung, die uns vermittelt worden sind, allen Erfahrungen, die wir jemals gemacht haben und allen Wahlen, die wir jemals getroffen haben. Diese Prozesse vereinen sich zur Gestaltung der unwiederholbaren Flugbahn, die in diesem gegenwärtigen Moment kulminiert. Was jetzt da ist, ist der einzigartige, aber veränderliche Eindruck, den all das hinterlassen hat, den ich ‚Ich‘ nenne.

Darüber hinaus nährt die schrittweise Auflösung einer transzendentalen Basis für das Selbst eine empathische Beziehung mit anderen. Der Griff des Selbst führt nicht nur zu Entfremdung, sondern macht einen auch den Qualen anderer gegenüber gefühllos. Tief empfundenen Anerkennung unserer eigenen Bedingtheit ermöglicht uns, unsere Verbundenheit mit anderen in gleicher Weise bedingten Lebensformen zu verstehen. Wir stellen fest, dass wir nicht isolierte Elemente sind, sondern Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Erschaffen einer anhaltenden, gemeinsamen Wirklichkeit.

Eine postmoderne Perspektive würde den mythischen Status von Buddhismus und Agnostizismus in Frage stellen. Mit dem Loslassen von ‚Buddhismus‘ als großem, umfassenden Narrativ, das alles erklärt, befreien wir uns für einen Weg der Entfaltung unserer eigenen Individuation im Kontext bestimmter lokaler und globaler Gemeinschaften. In diesem Prozess könnten wir herausfinden, dass auch wir Narrative sind: jeder von uns erzählt seine einzigartige Geschichte, die mit den Geschichten anderer unentwirrbar verwoben ist. Wir errichten dann nicht totalitäre, hierarchische Institutionen, um unsere großen Narrative in Stein zu meißeln, sondern wir halten Ausschau nach fantasievollen, demokratischen Gemeinschaften, in denen wir unsere eigenen petits recits verwirklichen können: kleine Narrative.

Eine solche Sichtweise ist unvermeidlich pluralistisch. Buddhismus sieht sich dann nicht mehr in Opposition zu anderen großen Narativen, die ihm zu widersprechen oder ihn zu bedrohen scheinen, sondern erinnert sich daran, wie er sich in seinen vitalen Perioden aus seinen Interaktionen mit ihm fremden Religionen, Philosophien und Kulturen entwickelt hat. Das erinnert einen an das traditionelle Hua-Yen Bild des juwelenbesetzten Netzes von Indra.Indras Netz

Das unermessliche kosmische Netz, an dessen Schnittstellen ein Edelstein sitzt, der alle anderen Edelsteine reflektiert. Heute liegt es nahe, dass das Netz die Biosphäre selbst darstellt: dieses unermessliche verflochtene Netz lebender Systeme, die einander zu einem wunderbaren Ganzen verstärken.

  1. aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Postmoderne
  2. : Buddhism and PostModernity, nachzulesen auf seiner Website: www.stephenbatchelor.org; dt. Übersetzung mit Zustimmung des Autors von Evamaria Glatz

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