Im Sommer 1983 bereiste ich gemeinsam mit einem Freund auf eigene Faust Ladakh – „Klein-Tibet“ – von Kaschmir aus. Es war meine erste Begegnung mit buddhistischer Kultur. Wir bestaunten bunte Gebetsfahnen am Straßenrand, die vielen Stupas und die klar gegliederte Architektur der Wohnhäuser, Klöster und Paläste auf unserem Weg. Die Menschen, alle in Landestracht gekleidet, kamen uns freundlich entgegen, und wir wurden immer wieder Zeugen ihrer tiefen Hingabe an die Religion, einer Mischung der alten Bön-Tradition mit dem Buddhismus. Es war vor allem das „ganz Fremde“, das uns anzog. Das Dorf Alchi liegt im schmalen Grünstreifen des Industals, ein paar Kilometer abseits der Hauptstrasse. Dort steht ein kleiner, durch seine farbenprächtigen Wandmalereien bekannter Tempel aus dem 12. Jahrhundert. Die sehr gut erhaltenen Bilder erstaunten uns durch viele Details, an denen wir sehen konnten, wie weit gereist die Künstler gewesen sein mussten. Als ich die aus Holz gearbeiteten Säulen des Haupttempels näher betrachtete, traute ich meinen Augen kaum: die Kapitelle, also die oberen Enden, ähnelten auffallend denen ionischer Säulen, die ich gut aus dem Schulunterricht über die Kunst des alten Griechenland kannte. Da musste es trotz der großen Distanz und mangelnder Straßen intensiven kulturellen Austausch gegeben haben, und zwar über Jahrhunderte hin. Die Erfahrung stand in Widerspruch zu meinem Schulwissen, in dem solche Querverbindungen keinen Platz hatten. Schon zwanzig Jahre vor unserer Reise hatte der US-amerikanische Altphilologe, Kunstkritiker, Kulturphilosoph und Dichter Thomas McEvilley mit der Erforschung der Beziehungen zwischen griechischer und indischer Geistesgeschichte begonnen. Es wurde ein Lebenswerk; dreissig Jahre lang arbeitete er an dem Buch: The Shape of Ancient Thought 1. McEvilley hat einige Grundannahmen formuliert, die nach seiner Meinung in der traditionellen europäischen Geschichtsforschung nicht nur ignoriert, sondern aktiv unterdrückt worden seien.Er erinnert daran, dass sowohl Griechenland als auch Indien um ca.. 600 v. Chr. Teile des Persischen Reichs gewesen seien und dass damals auf dem Weg über Mesopotamien enger kultureller Austausch stattgefunden habe, wie er an vielen, vor allem kunstgeschichtlichen Beispielen belegt. Zu dieser Zeit hätte es starke Impulse aus Indien nach Griechenland gegeben, unter deren Einfluss sich dort das Denken der vorsokratischen Philosophen entwickelt hätte, das bis heute die Wurzeln der westlich-zivilisatorischen Tradition bilde. Etwa zwei Jahrhunderte später hätte dann im Zug der Eroberungen Alexander des Großen eine Gegenbewegung stattgefunden: Alexander sei es nicht nur um Landgewinn gegangen; er habe zahlreiche griechische Kolonien bis nach Baktrien, dem heutigen Afghanistan, und Nordindien, etabliert, wo griechische Siedler sich niedergelassen und mit der örtlichen Bevölkerung vermischt hätten. Diese Kolonisten hätten dazu geneigt, sich Buddhas Lehre anzuschließen, weil in dieser das Kastensystem keine Geltung gehabt habe und Zugezogene daher leichter akzeptiert worden seien. Die Siedler hätten einen reichen Schatz an Kunstfertigkeit und auch an philosophischem Wissen mitgebracht, der unter anderem deutliche Spuren im frühbuddhistischen Denken hinterlassen habe. Der Autor unterstreicht, dass es insgesamt etwa 800 Jahre lang fruchtbaren, friedlichen Austausch zwischen Griechenland und Indien gegeben habe; wie leicht das möglich gewesen sei, belegt er unter anderem durch die Aussage des Geographen Strabo, der um die Zeitenwende lebte, dass jedes Jahr mehrere hundert Handelsschiffe das Rote Meer passierten, die natürlich auch Schriften, Kunstwerke und Wissenschafter transportieren konnten. Über hunderte von Seiten stellt McEvilley philosophische Gedankengänge aus Ost und West einander gegenüber und diskutiert an Hand unzähliger Zitate ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede. Im Detail vergleicht er Aussagen griechischer und indischer Philosophen einzelner Epochen und Schulen. Dabei lässt er sich nicht darauf ein, aus Zeitabfolgen simple Kausalitäten abzuleiten, aber er zeigt zahlreiche Parallelen auf, oft bis in die Einzelheiten des Wortlauts. Zwei Beispiele aus dieser umfassenden Arbeit: einmal die Verwandtschaft, die McEvilley im Denken des Griechen Pyrrho von Elis und des Inders Nagarjuna aufspürt. Pyrrho reiste um 400 v. Chr. nach Indien und blieb dort etwa 18 Monate. Nach seiner Rückkehr lehrte er etwa 40 Jahre lang und begründete eine philosophische Denkströmung, die später dem Skeptizismus zugerechnet wurde. Niedergeschriebene Texte hinterließ er nicht, seine Arbeit ist aber gut dokumentiert und nachvollziehbar durch seinen Schüler Sextus Empiricus. Nagarjuna lebte wie dieser im 2. Chr. und wird heute als erste bedeutende Persönlichkeit des Mahayana-Buddhismus angesehen. Stephen Batchelor sagt über ihn, er sei der erste nach Buddha gewesen, der dessen Lehre mit seiner eigenen Stimme neu formuliert habe. In Pyrrhos wie in Nagarjunas Denken bilde es, wie McEvilley referiert, einen Angelpunkt, sich von Urteilen frei zu halten, von Sätze wie: „Ich existiere“, „Es gibt ein Selbst“, „Es gibt kein Selbst“, „Die Welt ist real“, „Die Welt ist nicht real“ usw. Beide gingen von Erfahrungen aus, nicht von einer den Dingen innewohnenden Natur. Die Tendenz des Menschen, sich Konzepte von sich selbst und der Welt zu machen, werde radikal in Frage gestellt. Positive und negative Einschätzungen argumentierend einander gegenüber zu stellen, mache den Geist krank; wer das Urteilen aufgebe, Bestätigung und Verneinung meide, gelange zu Freiheit und Seelenruhe. Es gehe nicht darum, einen neuen Standpunkt zu finden, sondern sich klar zu machen, dass es keinen Standpunkt gebe. 2 Ein späteres Kapitel widmet McEvilley der „Ethik des Gleichmuts“. Er stellt Begriffe davon in ihrer historischen Entwicklung in indischen und griechischen Traditionen einander gegenüber. Als das höchste ethische Gut würde „Upecca“ in Sanskrit, „Ataraxia“ im Griechischen verstanden: auf Positives wie Negatives mit demselben Geisteszustand von Gelassenheit zu reagieren. Diesen anzustreben habe sowohl in der griechischen als auch in der buddhistischen Tradition eine therapeutische Note. Der griechische Philosoph Epikur aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert habe dieses Denken vertreten und verbreitet. Im heutigen Sprachgebrauch sei der Begriff „Epikuräismus“ irreführend verfälscht. Epikur sei es nicht um Wohlleben und Vergnügen gegangen, er und seine Schüler hätten ein recht asketisches Leben geführt. Er habe sich mehr als Lebensberater als als Philosoph gesehen. Wie für den Buddha sei für ihn der Umgang mit Schmerz und Freude ein zentraler Begriff und Ausgangspunkt seiner Ethik gewesen. Es sei ihm darum gegangen, wie der Krankheit des Geistes – dem Bevorzugen angenehmer und dem Zurückweisen unangenehmer Zustände – begegnet werden könne. Er habe sich – wie Buddha – ausführlich damit beschäftigt, wie derartige, automatisch ablaufende psychische Prozesse durch Achtsamkeit unterbrochen werden könnten. Epikur habe zu Lebzeiten und auch in den Jahrhunderten danach viele Anhänger gehabt, seine Lehre habe erst mit dem Aufstieg des Christentums an Einfluss verloren. Wenn die Zusammenhänge und Querverbindungen zwischen indischem und griechischem Denken so unübersehbar und zahlreich waren, wie McEvilley darlegt, warum gibt es so wenig an akademischem und Alltagswissen darüber? Darauf gibt der Autor eine eindeutige Antwort: die Ursache dafür liege in der im Westen lange vorherrschenden Überzeugung von der Unterlegenheit aller nichteuropäischen Völker. Im expandierenden Europa des 18. Jahrhunderts sei es als Rechtfertigung für das Projekt der Kolonialisierung nötig gewesen, die führende Rolle westlichen Denkens allen anderen Kulturen gegenüber klar zu stellen; dafür sei die Idee von den griechischen Weisen, die aus eigenem und unbeeinflusst die Grundlagen der europäischen Zivilisation gelegt hätten, unverzichtbar gewesen. Ein Ergebnis seiner Forschungen sei, dass es kein wichtiges Thema gebe, das nicht in beiden Traditionen – die einander oftmals angeregt, befruchtet und gespiegelt hätten – behandelt worden wäre. Darüber hinaus sei die lange Zeit propagierte Vorstellung, in Europa hätte rationales Denken vorgeherrscht, während in Indien Irrationalität und Mystizismus dominiert hätten, nicht aufrecht zu erhalten; da wie dort hätte es Denkströmungen beider Richtungen gegeben. Warum habe ich versucht, Bruchstücke des umfassenden und kenntnisreichen Werkes von Thomas McEvilley hier zu präsentieren? Es ist dieselbe Neugier, die mich schon im Kloster von Alchi bewegt hat: standen Ost und West in Verbindung, lang bevor es den Begriff „Globalisierung“ gab, und wenn ja, wie? Ich finde es spannend, wie der Autor herausarbeitet, dass buddhistisches Gedankengut schon seit vielen Jahrhunderten auch in unserem westlichen Kulturkreis gewirkt hat. Vieles davon ist seit der „Konstantinischen Wende“ im 4. nachchristlichen Jahrhundert , die mit der Einsetzung des Christentums als Staatsreligion endete, überlagert worden und im kollektiven Bewusstsein Europas in Vergessenheit geraten. Zu dessen Freilegung beizutragen, scheint mir wichtig und lohnend, und mit diesem Beitrag würde ich gern mehr Interesse dafür wecken. Für einen ersten Einblick eignet sich gut McEvilleys You-Tube-Video, das unter Anm. 1 zitiert ist.
- McEvilley, Thomas: The Shape of Ancient Thought, Comparative Studies in Greek an Indian Philosophies, Allworth Communications, 2002, 676 Seiten; auch als e-book erhältlich. Unter http://www.youtube.com/watch?v=8HAiTfOSP_w&feature=gv gibt es ein etwa halbstündiges Video, in dem der Autor Grundzüge seiner Forschungsergebnisse referiert ↩
- Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Denken Pyrrhos und dessen Zusammenhängen mit dem Buddhismus bietet auch: Kuzminski A.: Pyrrhonism: how the ancient Greeks reinvented Buddhism. Lexington Books: Lanham 2008. ↩