Albert Camus

albert camus aus seinen Texten: Die einzige Angst, die mich bedrückt, ist das Gefühl, dass dieser ungreifbare Augenblick mir durch die Finger rinnt wie Quecksilberperlen. Kümmert euch doch nicht um die Leute, die sich von der Welt abkehren wollen. Ich kann sagen, dass es einzig darauf ankommt, menschlich zu sein, einfach. Nein, es kommt darauf an, wahr zu sein, und dann ergibt sich alles von selber, die Menschlichkeit und die Einfachheit. Und wann bin ich wahrer und lauterer, als wenn ich die Welt bin? Man vermeint, von der Welt geschieden zu sein, aber es genügt, dass ein Olivenbaum im goldenen Staub aufragt, es genügt, dass ein paar Flecken Strand in der Morgensonne aufblitzen, damit man diesen Widerstand in sich dahinschmelzen fühlt. So ergeht es mir. Ich werde mir der Möglichkeiten bewusst, für die ich verantwortlich bin. Jede Minute des Lebens trägt in sich ihren Wert als Wunder und ihr Gesicht ewiger Jugend. Das Leben ist kurz und seine Zeit zu verlieren ist eine Sünde. Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Länge empfinden. Mittel: Tage im Wartezimmer eines Zahnarztes auf einem unbequemen Stuhl verbringen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verleben; sich Vorträge in einer Sprache anhören, die man nicht versteht; die längsten und am wenigsten bequemen Eisenbahnverbindungen aussuchen und natürlich stehend reisen; an der Theaterkasse Schlange stehen und dann seine Karte nicht benutzen… Die Menschen waren wie umherirrende Schatten, die nur zu Kräften hätten kommen können, wenn sie bereit gewesen wären, im Boden ihres Schmerzes Wurzeln zu schlagen. Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen. Ich hänge an der Welt mit meinem ganzen Tun, an den Menschen mit meinem ganzen Mitleid und meiner Dankbarkeit. Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen.

Einen Menschen zu besiegen ist ebenso bitter wie von ihm besiegt zu werden.

Es ist ein Missgeschick, wenn man nicht geliebt wird. Aber es ist ein Unglück, wenn man nicht liebt.

Was kann ein Mensch sich Besseres wünschen als Armut? Ich habe nicht Elend gesagt und rede auch nicht von der hoffnungslosen Arbeit des modernen Proletariers. Aber ich sehe nicht, was man sich mehr wünschen kann als mit tätiger Muße verbundene Armut.

…sich überall zuhause zu fühlen, weil er sich kein Zuhause wünschte, sondern nur Freude, freie Menschen, Kraft und alles, was das Leben an Gutem, Geheimnisvollen und dem hat, was man nicht kaufen kann und nie wird kaufen können. Er bereitete sich durch die Armut darauf vor, eines Tages imstande zu sein, Geld zu bekommen, ohne je darum gebeten zu haben und ohne je darauf angewiesen zu sein.

 

Es passiert in der Geschichte immer wieder, dass derjenige, der zu sagen wagt, dass zwei und zwei vier sind, mit dem Tode bestraft wird. Es darf aber nicht darum gehen, welche Belohnung oder Bestrafung ich für meine Aussage bekomme. Es geht einzig und allein darum, festzustellen, ob zwei und zwei vier sind oder nicht.

Es ist das Leben, weniger die Ideologie, die zum Kommunismus führt….Ich wünsche so sehr, dass die Summe an Unglück und Bitterkeit, die die Menschen vergiftet, verringert wird.

Gibt es eine Partei der Leute, die nicht sicher sind, recht zu haben? Bei der bin ich Mitglied.

Das Böse in der Welt geht fast immer von Unwissenheit aus, und der gute Wille kann ebenso viel Schaden anrichten wie Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als böse, aber sie sind mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster, wobei das hoffnungsloseste Laster das der Unwissenheit ist. Die Seele des Mörders ist blind, und es gibt keine wirkliche Güte oder wahre Liebe ohne die größtmögliche Klarsichtigkeit.

Es gibt auf dieser Welt Plagen und Opfer, und man muss sich, soweit wie möglich, weigern, auf Seiten der Plagen zu sein.

Kann man ein Heiliger ohne Gott sein? Das ist das einzige konkrete Problem, das ich heute kenne.

Man müsste den Glauben heidnisch und Christus griechisch machen.

Sisyphus findet, dass alles gut ist. Er lehrt uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt.

Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und Sterbens. Wir müssen der Gerechtigkeit dienen, weil unser Wesen ungerecht ist, das Glück und die Freude fördern, weil diese Welt unglücklich ist.

 

Die Dämmerung drang wie graues Wasser in das Lokal, das Rosa des Abendhimmels spiegelte sich in den Scheiben, und die Marmorplatten der Tische schimmerten schwach in der einsetzenden Dunkelheit.

Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Ich bin mit Sternen über dem Gesicht wach geworden. Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nach Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut. Angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne öffnete ich mich zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: Ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt mir, dass ich, geduldig wie eine schwierige Wissenschaft, die so viel wichtiger ist als all die Lebenskunst der andern, lerne: zu leben.   Ja, es gibt die Schönheit, und es gibt die gedemütigten Menschen. Wie schwierig das auch sein mag, ich möchte keiner dieser beiden Seiten jemals untreu sein. Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. Die Welt ist schön, und außer ihr gibt es keine Rettung. Sie trägt mich bis ans Ende. Sie verneint mich ohne Zorn. Die Schriftsteller waren immer auf der Seite des Lebens – gegen den Tod. Wo wäre die Würde dieses lächerlichen Berufs, wenn nicht in der unablässigen Fürsprache für die Sache des Menschen und des Glücks? Die wahren Künstler betrachten nichts mit Verachtung. Sie bemühen sich zu verstehen, nicht zu richten. Und wenn sie in der Welt Stellung zu beziehen haben, so können sie sich nur für eine Gesellschaft entscheiden, in der nach Nietzsches großem Wort nicht mehr der Richter herrschen wird sondern der Schaffende, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller.

Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.

Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, alles der Gegenwart zu geben. Die größte Ersparnis, die sich im Bereich des Denkens erzielen lässt, besteht darin, die Nicht-Verstehbarkeit der Welt hinzunehmen – und sich um den Menschen zu kümmern.

Seine Grundsätze sollte man sich für die großen Gelegenheiten sparen, für die kleinen genügt Erbarmen.

Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, toll gewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der Mächte ohne Größe heute wohl alles zu zerstören, aber niemand mehr zu überzeugen vermögen, sieht diese Generation sich vor die Aufgabe gestellt, in sich und um sich ein weniges von dem, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht, wiederherzustellen.   …jene starke dunkle Kraft, die ihn so viele Jahre über die Tage getragen, möge ihm mit der gleichen rastlosen Großzügigkeit, mit der sie ihm Gründe zu leben gegeben hatte, Gründe dafür liefern, alt zu werden und ohne Aufbegehren zu sterben. __________________________________________________________________________ Albert Camus wäre im vergangenen Jahr hundert Jahre alt geworden 1 Er dachte darüber nach, wie wir mit der Zeit umgehen sollten. Er liebte seine Heimat Algerien, die Sonne, das Meer, die Olivenbäume… Er kannte Armut und vergaß das nicht, ohne sie zu verleugnen oder zu verherrlichen. Er leugnete Gott und alle Götter. Er liebte die Menschen und stand auf der Seite der Armen. Er wandte sich gegen politische Systeme und Ideologien. Er weigerte sich, Partei zu beziehen und trat für Gewaltlosigkeit ein. Er wusste Bescheid darüber, dass Freude nicht ohne Schmerz zu haben ist. Er sprach darüber, wie Menschen an der Welt Raubbau treiben. Er fand sich nicht ab, dachte nach und suchte immer einen eigenen Weg. Er baute auf Freundschaft. Er war ein skeptischer Denker, und ein großer Stilist. Dass seine sterblichen Überreste mehr als 50 Jahre nach seinem Tod aus dem südfranzösischen Dorf, in dem er zuletzt gelebt hatte, ins Pariser Panthéon überführt worden wären – wie der französische Staatspräsident vorschlug – ist ihm erspart geblieben. Das Fussballmatch, das in Erinnerung an ihn gespielt wurde, hätte er sich wohl gefallen lassen.

  1. aus diesem Anlass sind drei Biografien erschienen, aus denen man sich über sein Leben und Werk informieren kann: Radisch, Iris: Camus. Das Ideal der Einfachheit, Hamburg 2013; Meyer, Martin: Albert Camus. Die Freiheit leben, München 2013; Onfray, Michel: Im Namen der Freiheit – Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013. Als Lektüre – Einstieg würde ich das postum erschienene, autobiografische Romanfragment: Der erste Mensch empfehlen, und dazu den Roman Die Pest, der ihn weltberühmt gemacht hat.

Das Leben als letzte Gelegenheit
Marianne Gronemeyer über Tod und Lebenstempo

marianne gronemeyer Ihre bereits vor über zwanzig Jahren erstmals veröffentlichte Untersuchung über den Geschwindigkeitsrausch, dem unsere Gesellschaft und also wir alle – mehr oder weniger – verfallen sind, beginnt Marianne Gronemeyer 1 mit der Frage:

Wie konnte das Leben so unter Zeitdruck geraten?…Man mag das bizarre Hochgeschwindigkeitsunternehmen je nach Geschmack und Standpunkt kontraproduktiv nennen, pervers, anmaßend, frevlerisch, hybride oder dumm, weil es den feinen Unterschied zwischen Qualität und Quantität verkennt. In jedem Fall scheint es als eine Verirrung des Menschen, der hoch hinaus will: die Nachfahren des Prometheus sind auf Abwege geraten und haben die Anmaßung zu weit getrieben.

Die Autorin nennt vernunftgemäße Weltveränderung die Grundgebärde der Neuzeit. Dabei geht sie von der vorherrschenden Denkgewohnheit aus, Menschen hätten mit dem Ende des Mittelalters begonnen, sich als tatkräftige Akteure zu verstehen, die selbstbewusst und zuversichtlich die Natur nach ihren laufend fortschreitenden Erkenntnissen formen. Gronemeyer stellt nun, im Verein mit anderen Autoren, deren Überlegungen sie diskutiert, diese Denkgewohnheit auf den Kopf:

Wie nun aber, wenn alles ganz anders begann? Wenn nicht große Entwürfe geschmiedet, sondern starke Bollwerke gebaut wurden…wenn nicht prometheischer Geist, sondern Todesangst die Moderne inspirierte?

Bis ins Hochmittelalter sei das Sterben ins Leben eingebettet gewesen; die Menschen wären im Kreise ihrer Familien an erwartbaren Krankheiten gestorben, begleitet von der Vorstellung des Übergangs zum „wirklichen“ Leben im Himmel, bestattet und betrauert mit der Unterstützung durch erprobte Rituale. Dies hätte sich durch das Auftreten der Pest tiefgreifend verändert.

Vom 14. bis ins 18. Jahrhundert haben Pestepidemien Europa heimgesucht, Millionen Menschen starben daran, in den härtesten Zeiten bis zu 50% der Gesamtbevölkerung. Die Pest war unberechenbar und unvorhersehbar, Methoden, sie zu vermeiden oder zu heilen, waren unbekannt. Da die Menschen nichts so sehr fürchteten wie Ansteckung, mieden sie Kontakte, soweit sie konnten; alle gewachsenen sozialen Strukturen und die gesamte öffentliche Ordnung mit Begleit- und Bestattungsritualen zerbrachen. Dies hätte zu tiefer kollektiver Mutlosigkeit geführt, und – gemeinsam mit dem Niedergang kirchlicher Autorität – zum Verfall des Glaubens an ein ewiges Leben beigetragen, schreibt Gronemeyer. Der Tod sei den Menschen nackt und schrecklich entgegengetreten:

Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod.

Dies wirkt bis heute. Viele Menschen sprechen und denken vom Tod als dem feindlichen Alleszerstörer. Er wird weggeschoben und totgeschwiegen. Das andere Bild: dass der Tod ein Teil des Lebens ist, den wir als selbstverständlichen Teil eines Kreislaufes ruhig erwarten können, hat keinen Platz in der Vorstellungswelt der Moderne.

Zwei Denker der frühen Neuzeit nennt Gronemeyer, die ganz unterschiedliche, einander ausschließende Vorschläge gemacht hätten, wie Menschen sich gegen das Ungeheuerliche des Todes wappnen könnten: Michel de Montaigne 2 und Rene Descartes 3. Montaignes Denken steht in der Tradition antiker Denker wie Epikur: wir sollten der Todesfurcht keine Macht über uns einräumen:

Berauben wir den Tod seiner stärksten Trumpfkarte, die er gegen uns in Händen hält,und schlagen wir dazu einen völlig anderen als den üblichen Weg ein: Berauben wir ihn seiner Unheimlichkeit, pflegen wir Umgang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, bedenken wir nichts so oft wie ihn! Stellen wir ihn jeden Augenblick und in jeder Gestalt vor unser inneres Auge. 4 montaigne

Montaigne schreibt, wir sollten des Todes immer gewärtig und zur Abreise gerüstet sein. Dabei sieht er dem Ewigkeitsverlust ohne jede Tröstung ins Auge, wie Gronemeyer hervorhebt. Die Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, die anzustreben sei, bedeute aber nicht Indifferenz:

Der Nutzen des Lebens kommt nicht auf die Dauer desselben, sondern auf den Gebrauch an…Er beruht auf eurem Willen, nicht auf der Anzahl der Jahre, die ihr gelebt habt.

Der Lohn für ein pflichterfülltes, nützliches Leben ist bei Montaigne kein höherer Sinn, sondern einzig die Abwesenheit von Todesfurcht. Gegen den Tod vorzusorgen, erscheint ihm absurd; Sicherheit liegt für ihn ausschließlich darin, seine Lebensspanne ungeschützt auszuhalten. Das Denken Rene Descartes‘ weist in die diametral entgegengesetzte Richtung, wie Gronemeyer belegt. Während Montaigne davon spricht, wir müssten der Furcht unverwandt ins Auge blicken, um sie zu überwinden, lässt Descartes, der mit seinem Kernsatz cogito ergo sum den modernen Diskurs über Vernunft eröffnet hat, sie einfach nicht gelten:

Was die Furcht oder den Schrecken betrifft, so sehe ich nicht, dass sie jemals lobenswert oder nützlich sein können…Und da der Hauptgrund der Furcht in der Überraschung besteht, gibt es nicht Besseres, daran vorbeizukommen, als von Vorüberlegungen Gebrauch zu machen und auf alle Ereignisse vorbereitet zu sein…Furcht ist eine Verwirrung der Seele, die ihr die Kraft raubt, den Übeln, die sie nahen sieht, zu widerstehen. 5

rene descartes

Wie man der Furcht beikommen könne, beschäftigt beide. Montaigne will sich selbst und uns deutlich machen, es bleibe kein anderer Weg, als sie einfach auszuhalten. Dieser Zugang hat wohl die Furcht bei Vielen noch vergrößert, und er blieb historisch ohne Nachhall, wie Gronemeyer schreibt. Descartes’ Diffamierung der Furcht hingegen hätte dem Projekt der Moderne den Weg gebahnt:

Sicherheit soll künftig die Furcht objektiv erübrigen…Das ist das Kalkül, das Descartes seinen zaudernden Zeitgenossen aufmacht. Am Ende steht eine Welt in Aussicht, in der es nichts zu fürchten gibt, weil die Anlässe der Furcht samt und sonders ausgeschaltet oder unter Kontrolle gebracht wurden. Die Furcht wird verurteilt, weil sie die Tatkraft hindert, die aufgebracht werden muss, um die Welt endgültig sicher zu machen. Descartes’ Anleitung zur Vermeidung von Angst und Schrecken enthält trotz der spartanischen Kürze das ganze auf Fortschritt gestimmte Konzept moderner Weltgestaltung. Fortschritt ist in seinem harten Kern nichts anderes als die Optimierung von Sicherheit…Aus Montaignes Ermunterung zur Furchtlosigkeit springt keine Fortschrittsidee heraus. 6

Gronemeyer nennt Montaigne Selbstbildner und Decartes Welterneuerer. Während es dem ersten darum gegangen sei, Leben und Tod in ihrer Unberechenbarkeit hinzunehmen und damit zu leben, hätte der zweite in tatkräftiger Weltgestaltung die Möglichkeit gesehen, die Natur mit ihren Risiken und Unvorhersehbarkeiten unter Kontrolle zu bringen. Montaigne hätte, als das Vertrauen in die wirkende und ordnende Macht eines Gottes zunehmend verlorengegangen war, zweck-los nachgedacht und die entstandene Leere ausgehalten; Descartes hingegen hätte unter Einsatz der Naturwissenschaften dafür geeifert, die Welt den Menschen vorhersehbar, nützlich und unschädlich zu machen. Er habe gemeint, wenn der Mensch die Natur und ihre Wirkungsweise nur genau genug durchschaue, werde er sich zu ihrem Herrn und Meister machen können. Er hätte eine Vernunft propagiert, die den kommenden Ingenieuren der Natur den Weg geebnet habe, und ihr dabei die kontemplative Muße genommen. Ausgehend von der Feststellung, dass von diesen beiden Antipoden der Descartes’sche Ansatz sich durchgesetzt habe, entwickelt Gronemeyer im Rest des Buches die Folgen für Lebensgefühl und gesellschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Ein zentrales Element ihrer Analysen ist die Zeit: sie wäre lange an Hand des natürlichen Kreislaufs von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten geschätzt und eingeteilt worden, bis durch das Aufkommen der Räderuhr ihre individuellen und regionalen Schwankungen „objektiviert“ worden seien. Dieser Übergang hätte lange gedauert:

…erst wenn aus Tätigkeiten keine Zeiteinteilungen mehr herausspringen, weil der rasende Maschinentakt sie regiert, wird der Mensch ohne Alternative an die Zeit der Uhr gefesselt und auf sie angewiesen. 7.

Auf diese Weise sei nach und nach dauerhafter Beschleunigung Tür und Tor geöffnet worden: die tickende Zeit ist ihrer Zeit voraus. Gleichzeitig habe das Bild vom Tod sich gewandelt: er sei nicht mehr von Gott verhängt, sondern werde zum schwerwiegender Defekt des menschlichen Körpers, der nun in Analogie zu einer Maschine gesehen wird:

Die Lokalisierung der Zeit in der Uhr und die Verlegung des Todes in den Mechanismus, als den man sich den lebendigen Körper denkt, erfüllen denselben Zweck: die Beherrschbarkeit. 8

Descartes habe ungebrochene Erwartungen und Hoffnungen auf die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft gesetzt, die das Leben verlängern sollte, und zugleich auf die Erfindung zahlreicher Maschinen, um es zu erleichtern. Bei diesen – durch viele Erfolge bestätigten und beschleunigten Prozessen – seien Gelassenheit, Geduld und Zweifel als zeitraubende Abweichungen auf der Strecke geblieben.   Das sind nur Bruchstücke aus dem originellen und inhaltsreichen Buch Gronemeyers, das nach zwanzig Jahren aktuell ist wie je. Warum ich sie hier vorgestellt habe? Unser Umgang mit Zeit, längst schon schleunig genug, nimmt immer noch an Fahrt auf, wird immer noch mehr fraktioniert, zu unser aller Schaden, wie ich meine. Dass wir uns das, wenn auch murrend, so lange und so heftig bieten lassen und noch eifrig und tüchtig mittun, darin liegt – über ökonomische und gesellschaftpolitische Gründe aus der Gegenwart hinaus – ein Widerspruch, über den es sich wohl nachzudenken lohnt. Gronemeyer bringt im Verein mit ihren Gewährsleuten 9 einen historischen Erklärungskontext, der überrascht und dabei tief greift – in einen Bereich, den auch wir Heutigen nur ungern gelten lassen: wie wir mit dem Tod und unserer Angst davor umgehen.

  1. Marianne Gronemeyer ist eine deutsche Erziehungswissenschafterin und Autorin. Eine komprimierte Zusammenfassung ihres Werks findet sich unter: http://www.salzburg.gv.at/marianne_gronemeyer.pdf. In diesem Blog-Eintrag werden Grundzüge und Haupthemen ihres Buches: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, 5. Auflage, 2014, vorgestellt.
  2. Näheres über diesen großen französischen Denker des 16. Jahrhunderts, den Autor der Essais, auf diesem Blog unter: „Es sich auf der Erde heimisch machen – Über Michel de Montaigne“
  3. Über den Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschafter, auch er ein Franzose des 16. Jahrhunderts, gibt es gute erste Informationen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes
  4. Michel Eyquem de Montaigne: Que Philosopher C’Est Apprendre à Mourir, in: ders.: Essais, 1. Buch, Kapitel 20
  5. Descartes, Rene: Les Passions de l’âme, dt.: Die Leidenschaften der Seele, hrsg. von Klaus Hammacher, 1984, S 273-275
  6. Gronemeyer, s.o., S. 33f.
  7. Gronemeyer, s.o., S 85
  8. Gronemeyer, s.o., S.99
  9. allen voran ihr Lehrer Ivan Illich, dem das Buch auch gewidmet ist

Mark Aurels Gedanken über den Tod

aure_000In seinen Selbstbetrachtungen schreibt Mark Aurel 1: Auch wenn du dreitausend Jahre leben würdest, oder auch dreißigtausend: denk daran, dass keiner ein anderes Leben verliert als das, das er wirklich lebt und kein anderes lebt als das, das er verliert. Das läuft beim längsten Leben auf das gleiche hinaus wie beim kürzesten. Der gegenwärtige Zeitpunkt dauert für alle gleich, wie groß auch die Unterschiede in der Dauer der Vergangenheit gewesen sein mögen. Den Zeitpunkt, zu dem wir das Leben verlieren, erleben wir nur wie einen Augenblick.

  1. Der römische Kaiser Marcus Aurelius lebte im 2. Jahrhundert. Er war ein letzter Vertreter der stoischen Philosophie. Näheres unter: http://www.info-antike.de/marcaur.htm. Der hier zitierte Text stammt aus den Selbstbetrachtungen, 2/14, http://gutenberg.spiegel.de/buch/1479 , frei zitiert von Evamaria Glatz

Wenn es einmal so richtig kracht …

images   …versuche ich mich an einen Satz zu halten, den der austro-amerikanische Systemtheoretiker Heinz von Foerster geprägt hat:

Act always so as to increase the number of availabe choices.

Hilft in allen Lebenslagen, wenn’s gelingt.

Wer war bloß Ikkyû Sôjun?

indexNur ein Kôan ist wichtig – Du. Getreu diesem Satz- der traditionsbewusste Lehrer irritieren musste – hat der zen-buddhistische Mönch und Künstler Ikkyû Sôjun 1 im 15. Jahrhundert u. Z. in Japan sein Leben geführt. Ikkyû war der illegitime Sohn einer Hofdame, sein Vater war wahrscheinlich der Kaiser. Im Alter von fünf Jahren kam er in ein Kloster der Rinzai-Schule und erhielt eine gute Ausbildung in chinesischer Sprache, Musik und anderen Künsten. Schon als Jugendlicher machte er sich einen Namen als Dichter; gleichzeitig begann er, das in Konventionen erstarrte Leben der etablierten Mönche scharf zu kritisieren. In den Klöstern wurde Politik im Sinne des herrschenden Shogun und seiner Aristokratie gemacht. Ikkyû wandte sich lebenslang gegen klösterliche Scheinheiligkeit, Profitgier, Korruption und Vetternwirtschaft. Eine Praxis, die er scharf kritisierte, war der öffentliche Verkauf von „Erleuchtungszertifikaten“ (inka) durch Mönche gegen Protektion und Geld 2. Ein paar Beispiele aus seinen Gedichten 3:

Wer von Rinzais Schülern schert sich um die wahre Überlieferung? In ihren Schulen ist kein Obdach für den blinden Esel 4, der, unterwegs mit Stab und Strohsandalen, Wahrheit findet. Dort übt man Zazen auf sicherem Boden, bequem zurückgelehnt, für eigenen Gewinn.

und:

Jeden Tag studieren Priester ganz genau den Dharma und singen endlos die schwierigen Sutren. Doch zuvor sollten sie erstmal lernen, Liebesbriefe zu lesen, die Wind und Regen, Schnee und Mond schicken.

oder:

Bücher, Kôan und Zazen verfehlen das Herz, nicht aber die Gesänge der Fischer. Regen wirft sich auf den Fluss. Ich singe mein Lied jenseits von alledem.

Ikkyû verließ den erhabenen Tempel in Kyoto mit sechzehn Jahren und praktizierte jahrelang in kleinen Klöstern Meditation. Man sagt, er hätte eines Nachts im Boot auf einem See beim Schrei einer Krähe ein Erlebnis des Erwachens gehabt; die schriftliche Bestätigung seines Lehrers warf er ins Feuer. Er studierte und lehrte lebenslang den Dharma, wandte sich aber vehement dagegen, wie er aus (macht)politischen Motiven in der Klosterhierarchie entstellt und missbraucht wurde. 02Im Alter von dreiunddreißig Jahren ging er auf Wanderschaft; er zog fast dreißig Jahre im Gebiet um Kyoto und Osaka durchs Land, freundete sich mit vielen Menschen aus allen Schichten an, die seinen Weg kreuzten und lehrte, wo es sich ergab. Er hatte Kontakt mit vielen Künstlern seiner Zeit und war selbst nicht nur ein gefeierter Dichter, sondern auch Kalligraph und Flötenspieler, und einer der ersten Teezeremonien-Meister. Dabei war er auf weltliche Genüsse aus und machte auch kein Geheimnis daraus:

…wenn ihr mich finden wollt sucht mich auf dem Fischmarkt, in der Trinkstube oder im Puff.

Er brach Tabus, wo immer es ihm gefiel. In einer kalten Nacht soll er einmal in einem Tempel, wo er zu Gast war, eine hölzerne Buddhastatue verbrannt haben, um sich zu wärmen. Als sein Gastgeber ihm Vorwürfe machte und sagte: Wie kann ein Gelehrter des Zen so lästerlich handeln?, stocherte Ikkyû in der Asche und erklärte, er suche nach Knochen. Auf die Frage, wie er darauf komme, erwiderte er: Nun, die Statue hatte keine Knochen, aber meine Knochen wollten letzte Nacht gewärmt werden – so opferte ich den hölzernen Buddha dem lebendigen. Am nächsten Tag saß er betend vor einem Grenzstein und erklärte: Letzte Nacht war mir nach Wärme, jetzt ist mir nach Beten, und die Buddhafigur ist ja nicht mehr da. Ein andermal hätte ihm beim Betteln ein reicher Mann nur eine wertlose Münze gegeben. Ikkyû sei in der formellen Robe eines Zen-Meisters wiedergekommen und zu einem üppigen Essen geladen worden. Da habe er die Robe abgelegt und sei mit der Bemerkung gegangen, das Essen wäre der Robe angeboten worden, nicht ihm. Ikkyû feierte sinnliche Freuden, vor allem Sexualität:

Das Krächzen der Krähe war schon in Ordnung. Doch eine Nacht mit einer lieben Dirne schenkte mir tiefere Weisheit als die Worte des Vogels.

Seinen Schülern riet er oft, gemäßigter zu leben als er. Gleichzeitig zieht sich aber durch seine Gedichte als Leitmotiv das Bild vom „roten Band“: wir Menschen können Leidenschaft und Begehren nicht abstreifen, solange wir am Leben sind. Er erzählte gern die Geschichte von einer Frau, die viele Jahre lang einen frommen Einsiedler beherbergte und verpflegte. Eines Tages schickte sie ihre Magd mit dem Auftrag, sich auf seinen Schoß zu setzen und ihn innig zu umarmen. Auf die Frage, was er dabei fühle, antwortete er: „Ein kahler Baum am kalten Fels, im Winter kennt er keine Wärme“. Als seine Wirtin das hörte, sagte sie, gänzlich unempfindlich könne sich nur ein Heuchler geben, oder ein Leichnam, beides wolle sie nicht verehren; und sie schickte ihn fort. Richtig erwischt hat es Ikkyû im Alter von 77 Jahren. Da begann er eine leidenschaftliche Beziehung mit der Sängerin Shin 5, einer blinden Nonne, die vier Jahrzehnte jünger war als er. Seine Gedichte an sie sind Meisterwerke erotischer Literatur 6:

Shin singt frei jeder Eitelkeit im Pavillon – es ist Abend und es regnet Zärtlichkeiten. Ich war wie ein alter Baum ohne Blätter, bis wir uns trafen. Nun sprießen grüne Knospen, und jetzt, wo ich dich habe, werde ich nie vergessen, was ich dir schulde. Shin, du bist alle Bäume des Frühlings. Die Besucher sind fortgegangen, die Lieder versiegt – nichts, Stille.

Diese Verse klingen, als wäre er selbst zur Ruhe gekommen. Aber Shin starb noch vor ihm. In seinen letzten Jahren kümmerte er sich um die Opfer eines Krieges, der in der Region zehn Jahre lang gewütet hatte, und arbeitete am Wiederaufbau eines Haupttempels in Kyoto mit, zu dessen Abt er – trotz seines schlechten Rufs – noch bestellt wurde. Auch als alter Mann versuchte er nicht, sich mit Spekulationen über ein künftiges Leben zu trösten:

Wenn es am Ende unserer Reise gar keinen Ort zum Ausruhen gibt, dann müssen wir uns auch nicht sorgen, den Weg zu verlieren. Bleiben etwa unsere Vergehen zurück? Alle Vergehen, die wir in den drei Welten begangen haben, werden mit uns verschwinden.

Ikkyû Sôjun starb im Alter von 88 Jahren an einem hitzigen Fieber. der alte Ikkyu Er war schon zu Lebzeiten so berühmt wie umstritten, und seine Popularität in Japan hält bis heute an. Dazu hat besonders eine Manga-Serie des berühmten Künstlers Hisashi Sakaguchi aus den Jahren 1993 -1995 beigetragen 7.

  1. eine Kurzzusammenfassung über sein Leben und Werk gibt es z.B. unter: http://buddhism.about.com/od/whoswhoinbuddhism/fl/Ikkyu-Sojun.htm
  2. das erinnert stark an den Ablasshandel, der ungefähr gleichzeitig im christlichen Europa grassierte und zu einem wichtigen Anstoß für Martin Luthers Reformbestrebungen wurde
  3. Eine Auswahl ist unter dem Titel: Ikkyû Sôjun – Gedichte von der verrückten Wolke im Angkor-Verlag 2007 erschienen
  4. so hat Ikkyû sich selbst genannt
  5. nach anderen Quellen: Mori
  6. In der erwähnten Sammlung gibt es viele Texte unverhüllt sexuellen Inhalts
  7. s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Ikkyu_%28Manga%29. Die Mangas sind in vier Folgen in deutscher Übersetzung erhältlich: Ikkyû, Bd. 1-4, Carlsen-Verlag 2008

Ein einfacher Mensch

Vicky beim Buchstabenfest Der Einfältige nimmt sich weder wichtig noch findet er sich tragisch. Er folgt seinem Weg als gutmütiger Mensch mit leichtem Herzen, ohne Ziel, ohne Bedauern, ohne Ungeduld. Die Welt ist sein Königreich und es genügt ihm vollkommen. Die Gegenwart ist seine Ewigkeit, die ihn glücklich macht. Es gibt nichts zu beweisen, und deshalb will er niemandem etwas vormachen. Es gibt nichts zu suchen, weil alles schon vorhanden ist.

Mittelmaß

Zu Buddhas Dharma gehören keine besonderen Unternehmungen. Verhalte dich einfach normal und versuche nicht, irgendetwas besonderes zu tun. Entleere deinen Darm, pinkle, zieh dich an, iss deinen Reis, und wenn du müde bist, leg dich nieder.

Rinzai, 9. Jahrhundert

…denn das Wachstum des Guten auf der Welt hängt zum Teil von unhistorischen Taten ab; und dass es nicht so schlimm um dich und mich bestellt ist, wie es hätte sein können, verdanken wir nicht zuletzt den Einzelnen, die treulich ihr verborgenes Leben gelebt haben und in Gräbern ruhen, die keiner mehr besucht.

George Eliot, 19.

Mit.Gefühl beim Essen

Wir essen mehrmals täglich. Das eine Mal spüren und genießen wir jeden Bissen langsam und bewusst, ein anderes Mal schlingen wir hastig und unaufmerksam. Wir essen Äpfel und Müsli, Popcorn oder Broccoli, Pasta, Spinat oder Schokoriegel, Würstel, Reis, Bananen und Walnüsse. Wir essen an schön gedeckten Tischen mit unseren Freundinnen und Freunden oder im Stehen an einem Imbissstand. Manchmal essen wir zu wenig und öfter zu viel. Nachher fühlen wir uns vielleicht wohl und rundum satt, gelegentlich aber überfüllt und von Blähungen geplagt. Einmal wählen wir das Essen so, dass es im Einklang mit dem steht, was uns wichtig ist, ein anderes Mal denken wir gar nicht daran, und manchmal müssen wir uns im Nachhinein sagen: das hätte ich besser stehen lassen.

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Essen ist eine schwierige Sache. Vor jeder Mahlzeit – auch wenn sie fertig vor uns hingestellt wird – sind Entscheidungen zu treffen: Wie viel esse ich? Wie schnell? Esse ich das überhaupt, oder nur Teile davon? Und es gibt kaum einen Bereich im Alltagsleben, wo man bei sich selbst und seinen Mitmenschen auf so viele Überzeugungen und unverrückbare Standpunkte stoßen kann wie hier. Lacto-, Ovo- und sonstige Vegetarier, Veganer, Frutarier, Karnivoren, Pescetarier, Flexetarier – all diese Ausdrücke stehen bei manchen Menschen für nicht mehr und nicht weniger als für ihre Weltanschauung, und die Aussagen ihrer Anhänger für Glaubenssätze. Mit der Lebensform von Buddhistinnen und Buddhisten wird meist assoziiert, sie ernährten sich vegetarisch oder sollten das zumindest tun. Als säkulare Buddhistin, Glaubenssätzen gegenüber kritisch distanziert, möchte ich über diese Frage nachdenken.

Siddharta Gotama ernährte sich von pflanzlicher Nahrung und empfahl seinen Anhängern, Mönchen wie Laien, dasselbe. Er sprach von einer Ausnahme: wenn Mönchen Fleisch angeboten würde, sollten sie es unter der Bedingung annehmen und essen, dass das Tier nicht eigens für sie getötet worden sei. Diese Einschränkung zeigt, wie Buddha in seinem Denken von konkreten Lebenssituationen ausging und abhängig von deren Bedingungen angemessene Reaktionen empfahl. In der Metta-Sutta sagt er1:

Was es auch an lebenden Wesen gibt: Ob stark oder schwach, ob groß oder klein, ob sichtbar oder unsichtbar, fern oder nah, geworden oder werdend – mögen sie alle glücklich sein… Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr einzig Kind beschützt und behütet, so möge man für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt erwecken: ohne Hass, ohne Feindschaft, ohne Beschränkung, nach oben, nach unten, nach allen Seiten.

Und die erste der 5 Silas, der später entstandenen buddhistischen Lebensregeln, lautet:

Ich gelobe, mich darin zu üben, kein Lebewesen zu töten oder zu verletzen.

Was kann das für unsere Gegenwart bedeuten? Es gibt ein schönes Interview mit Gerhard Weisgrab, dem Präsidenten der Österreichischen Buddhistischen Gesellschaft, mit dem Titel: Darum sind nicht alle Buddhisten Vegetarier 2. Weisgrab weist darauf hin, dass im Buddhismus der Unterschied zwischen Tier und Mensch im Vergleich mit anderen Religionen für geringer gehalten werde: der Mensch werde nicht als die Krone der Schöpfung gesehen mit dem Auftrag, sich die Erde untertan zu machen 3. Mensch und Tier seien sich auch deshalb näher als in anderen Religionen, weil keinem von beiden eine Seele, also ein unveränderlicher Wesenskern, zugesprochen werde. Mitgefühl mit allen fühlenden Wesen sei von zentraler Bedeutung für Buddhistinnen und Buddhisten, es solle unser Handeln in allen Bereichen – also auch in unserem Essverhalten – durchdringen und bestimmen. Da Buddhismus aber auf Eigenverantwortung beruhe und keine Dogmen kenne, existierten auch keine allgemein verbindlichen Speiseregeln. So ist also jede einzelne von uns aufgerufen, selber darüber zu entscheiden, was sie essen will, und das – zumindest für sich selber – zu begründen. Das will ich versuchen. …für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt zu erwecken… lautet unser Auftrag. Für alle Wesen: also außer für uns Menschen für alle Tiere und Pflanzen. Dokus von Hühnern in Mastkäfigen, von Gänsen, die gestopft werden und von Schweinen, die sich aus Raumnot gegenseitig anfressen, erschüttern. Das Fleisch von Tieren, die solches durchgemacht haben, ist wahrlich ungenießbar. Unser Mitgefühl soll auch den Pflanzen gelten. Sie haben Stoffwechsel, bewegen sich, vermehren sich und reagieren in vielfältiger Form auf Reize. Ein Sonnenblumenfeld im Sommer, wo die Blüten sich mit dem Stand der Sonne drehen, ist ein schönes Beispiel dafür 4.

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Von dem Satz ausgehend, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung sei, kann ich nicht sehen, warum mir Tiere näher stehen sollten als Pflanzen. (Sie tuns auch nicht. Der Anblick eines stattlichen Baumes geht mir persönlich eher nahe als der eines hübschen Kätzchens.) Jedenfalls: Hierarchisierung von MItgefühl verschiedenen Lebewesen gegenüber – das stimmt für mich nicht. Ein großer Teil der Lebensmittel, die uns heute – typischerweise im Supermarkt – angeboten werden, stammt nicht aus artgerechter Haltung, und zwar unabhängig davon, ob es sich um pflanzliche oder tierische Nahrung handelt. Das Prinzip industrieller Produktion ist in Legebatterien oder Schweinemastbetrieben dasselbe wie in riesigen Monokulturen von Mais oder Getreide mit all ihren negativen Folgen für Resistenz und Krankheits- bzw. Schädlingsanfälligkeit. Die systematische Gabe von Antibiotika in der Tierzucht entspricht dem exzessiven Einsatz von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln im Ackerbau. Für mich verläuft bei diesen Fragen die Haupt-Bruchlinie, wenn ich mich täglich entscheiden muss, was ich einkaufe 5. Unsere Aufgabe als Menschen ist es, auf die Wesen, die auf der Welt leben, acht zu geben, auf Pflanzen wie Tiere gleichermaßen, und auf die Ressourcen, die wir verbrauchen. Davon ausgehend ist für mich das starke Argument gegen Fleischverzehr nicht selektive Tierliebe sondern die Tatsache, dass für die Erzeugung tierischer Nahrungsmittel ein Vielfaches an Boden, Wasser und Energie draufgeht wie für pflanzliches Essen, Analoges gilt für die Emissionen von Treibhausgasen als Hauptverursacher des Klimawandels 6. Eins sollte uns jedenfalls klar sein: Fast durch alles, was wir Menschen tun, um Nahrung zu erwerben oder zuzubereiten – abgesehen nur vom Sammeln abgefallener Früchte oder Nüsse – werden andere Lebewesen getötet oder geschädigt. An dieser Tatsache – aus der hier bestimmt kein Glaubenssatz gemacht werden soll – können wir nichts ändern. Sie kann uns nur die große Verantwortung deutlich machen, die wir in unserem Essverhalten tragen – ob wir das sehen wollen oder nicht.

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Also: ohne Kompromisse wird es nicht gehen. An schrankenlosem Mitgefühl mit allen Lebewesen würden wir verhungern.

Ich versuche, es als eine Art Richtschnur zu nehmen, und außerdem meinen Menschenverstand zu gebrauchen. Ich gehe lieber auf Märkte als in den Supermarkt. Ich möchte Dinge kaufen und essen, die aus biologischem Anbau stammen oder sonst möglichst naturnah gezogen wurden. Besonders wichtig sind mir kurze Transportwege, daher kaufe ich fast nur heimische Ware. Ich greife so selten wie möglich zu fertig Verpacktem. An Obst und Gemüse gibt es bei mir nur das, was hierzulande gerade reif ist. Gern greife ich zu „unspektakulären“ Sorten wie Sellerie, Karotten, Kohlrüben und Äpfeln. Ich gebe mehr auf den Geschmack als auf das Aussehen. Exotisches lasse ich weg. Sehr selten esse ich Fleisch, und wenn ich es tue, achte ich auf artgerechte Haltung der Tiere.

  1. eine schöne deutsche Übersetzung dieser „Lehrrede von der Liebenden Güte“, eines zentralen Texts aus dem Pali-Kanon, findet sich unter: http://www.buddhachannel.tv/portail/spip.php?article11143
  2. http://derstandard.at/1361240395145/Religion-und-Tiere-Warum-nicht-alle-Buddhisten-Vegetarier-sind
  3. s. Altes Testament, Gen. I, 28
  4. Zu diesem Thema ist im Jahr 2012 das sehr interessante Buch: What a Plant knows von Daniel Chamovitz, dt.: Was Pflanzen wissen, erschienen. Der Autor, Professor für Pflanzenbiologie, geht darin auf jeden einzelnen Sinn von Pflanzen ein: Sie sehen, riechen, fühlen, hören, „wissen“ etwas über sich selbst und erinnern sich. Dabei wird klargestellt, dass Pflanzen nichts im menschlichen Sinn wissen können, da ihnen das Gehirn fehlt, um Sinneseindrücke zu verarbeiten. Trotzdem – so der Biologe – gelingt es ihnen, ihre Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren
  5. Das Argument, dass wegen der wachsenden Weltbevölkerung industrielle Lebensmittelproduktion in großem Stil unverzichtbar sei, ist für mich angesichts der Tatsache, dass weltweit ein Drittel der erzeugten Nahrungsmittel weggeworfen wird, höchst fragwürdig. Daher habe ich große Sympathien für Freeganer – das sind die Leute, die ihre Lebensmittel ganz oder teilweise aus den Abfalltonnen von Supermärkten beziehen
  6. s. z.B. http://www.peta.de/umwelt

Was fangen wir bloß mit Weihnachten an?

Viele von uns, grade die Älteren, haben gute, manchmal auch recht romantische Erinnerungen an Weihnachtsfeste, so auch ich. Die Tage, in denen die Familie zusammenrückte, waren eingerahmt von den christlichen Ritualen: Lesen des Evangeliums, MItternachtsmette, Singen von Weihnachtsliedern…Wir haben uns auf Geschenke gefreut, waren zusätzlich aber auch durch das für alle selbstverständliche rituelle „Drumherum“ verbunden. Das ist verloren gegangen, wie Weihnachten heute aussieht, wissen und spüren wir alle. Das ist natürlich in aller Welt so; dieses Gedicht 1 habe ich in einer australischen Zeitung gefunden:

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Wär ja kein schlechter Ansatz, Raum zum Atmen. Aber nur eine Leerstelle ist auch zu wenig, weil wir Menschen doch rituelle Tiere 2 sind.

Es geht mir schon lange so: mit den christlichen sind mir Rituale überhaupt abhanden gekommen. Buddhistischen Ritualen traditioneller Schulen, die ich als erwachsene Frau kennengelernt habe, habe ich mich von Anfang an weitgehend entzogen; da steh ich nun mit ziemlich leeren Händen. Ich sehe, dass es anderen säkularen Buddhistinnen und Buddhisten genauso geht.

  1. es stammt von dem Cartoonisten Michael Leunig und wurde im alljährlichen Kalender des Sydney Morning Herald veröffentlicht
  2. den Ausdruck hat Ludwig Wittgenstein geprägt