Ein gutes Leben wollen wir führen. Wie legen wir′s an? Wir strengen uns an. Wir bemühen uns, freundlich zu unseren Mitmenschen zu sein, konzentriert bei der Arbeit, mäßig beim Essen und Trinken, diszipliniert bei der Meditation. Das geht eine Weile gut, bis immer wieder einmal der Faden reißt. (Warum und unter welchen Bedingungen reißt der eigentlich? Wir kommen darauf zurück.) Wir kennen die Zustände von Unmut, Lustlosigkeit, Sich-Gehen-Lassen und Zerfahrenheit. Irgendwann, von Unzufriedenheit und vielleicht von Selbstvorwürfen begleitet, versuchen wir es mit noch mehr Disziplin, und der Kreislauf beginnt von neuem. Buddhas Schüler Sona, der in meditativer Abgeschiedenheit lebte, hatte – in seiner Welt – das gleiche Problem. Als sein Lehrer davon erfuhr, antwortete er darauf mit einem Gleichnis:
…Sag, Sona, du hattest dich doch wohl früher, als du noch im Hause lebtest, auf den Saitenklang im Lautenspiel verstanden? Ja, o Herr. Sag, Sona, wenn die Saiten deiner Laute zu straff gespannt waren, gab dann wohl deine Laute einen vollen Klang und war sie zu gebrauchen? Nein, o Herr. Wenn nun aber die Saiten deiner Laute zu lose gespannt waren, gab dann wohl deine Laute einen vollen Klang und war sie zu gebrauchen? Nein, o Herr. Wenn nun aber, Sona, die Saiten deiner Laute weder zu straff noch zu lose gespannt, sondern auf mittlere Tonhöhe abgestimmt waren, gab dann wohl deine Laute einen vollen Klang und war sie zu gebrauchen? Ja, o Herr. Ebenso auch, Sona, führt allzu straffe Anspannung der Willenskraft zur Aufregung, allzu schlaffe Anspannung aber zur Trägheit. Darum, Sona, halte dich an ein Ebenmaß deiner Willenskraft, erwirb dir ein Ebenmaß deiner Fähigkeiten und strebe dann nach dem Ziel…1
Dieses Bild für den Mittleren Weg leuchtet ein, aber mir reicht es nicht aus. Wie kann ich das Ebenmaß der Willenskraft finden und beurteilen? Und dann: nicht jede Saitenspannung kann für jede Lebenssituation gleich gut geeignet sein. Wer in ein Fitnesscenter geht, übt sich im Erreichen bestimmter Ziele. Er will Muskelmasse aufbauen, Fett abbauen usw., und er tut das durch diszipliniertes und routiniertes Wiederholen vorgegebener Übungen. Erwünschte Resultate zu erlangen, bringt dann eine gewisse Befriedigung, und neue Ziele tauchen auf. Wer Feldenkrais-Übungen macht, versucht, jede einzelne Bewegung mit dem genau angemessenen Energieaufwand durchzuführen, und dem bis in feine Details nachzuspüren. Ein Gradmesser für die Qualität der Praxis ist dabei die Freude daran. 2 Zwischen ähnlichen Varianten von Willenskraft bewegen wir uns immer wieder in unserem Leben und unserer Praxis. Stellen wir die ernsthafte Anstrengung in den Vordergrund, oder halten wir es mit Shantideva, der den Zustand rechten Bemühens mit dem eines Kindes vergleicht, das zum Spielen ins Freie geht, oder auch mit einem von der Mittagssonne gequälten Elefanten, der in einen kühlen, erfrischenden See eintaucht? 3 Unser menschliches Verhalten ist abhängig von den kulturellen Bedingungen, die uns umgeben. 4 Das gilt auch für Buddha, und es gilt auch zum Zeitpunkt seines Erwachens. Bis dahin hatte er viele Jahre in der Umgebung von Extrem-Asketen verbracht, für die es von entscheidender Bedeutung war, gerade nur so viel zu sich zu nehmen, dass sie nicht verhungerten: auf diese Weise meinten sie, alle irdischen Begierden hinter sich lassen zu können. In diesem für uns Heutige kaum vorstellbaren Umfeld zu erkennen, dass nur ein Mittlerer Weg zwischen Selbstkasteiung und Luxus heilsam sein könne, war ein echter Durchbruch. 5 Wie steht es denn mit unseren heutigen kulturellen Bedingungen bei der Suche nach dem rechten Bemühen, der angemessenen Spannung der Saiten? Zumindest die Älteren unter uns sind – explizit oder implizit – nachhaltig geprägt von christlichen Moralvorstellungen mit ihrer Überbetonung von Schuld und Strafe. Systematisch überschätzen wir die Wirksamkeit von Disziplin und Selbstdisziplin und unterschätzen, wie sehr die Entwicklung unserer positiven Seiten uns bereichern kann. Dass hier ein Bias besteht, könnten wir getrost im Auge behalten, und im Zweifelsfall Freundlichkeit mit uns selber pflegen. In der Geschichte der großen buddhistischen Traditionen finden wir ähnliche Muster wie im Christentum. Buddhas Lehren wurden in den Jahrhunderten nach seinem Tod in den religiösen Institutionen patriarchal organisierter Mönchsorden tradiert; dort war – und ist teilweise noch – das Leben durch autoritäre Vorgaben streng normiert, harte asketische Arbeit an sich selbst ist ein Eckpfeiler der Regeln für den Alltag. Nun sind sich alle Weisheitstraditionen darin einig, dass es sinnvoll und wichtig für das innere Wachstum von Menschen sei, auf Dinge verzichten zu können, die Vergnügen machen. Wenn wir nicht geübt haben, loszulassen, wird uns das fehlen, wenn wir es brauchen. Aber: wer das übertreibt, läuft Gefahr, sich mehr mit Askese zu beschäftigen, als gut tut. Dann können Dinge wie die Freude an Wachstum durch Arbeit, Freundschaft und soziales Engagement in den Hintergrund geraten. 6 Entsagung ist ein relatives Konzept, wie Higgins feststellt. Ob wir für lange Zeit in schmerzhafter Körperhaltung meditierend aushalten wollen, muss jede/r für sich selbst entscheiden, und dies wird von den Umweltbedingungen mitbestimmt sein. Jahrhundertealte Mönchsregeln lassen sich hinterfragen, und neue, der Gegenwart von Laien im 21. Jahrhundert angemessene Leitlinien können sich anbieten, wie etwa solche über den überlegten und sparsamen Umgang mit Produkten moderner Technologie. Wir könnten uns im Einzelfall klar machen, was wir uns aus welchem Grund versagen wollen: Inaktivität, weil sie uns träge macht, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, weil sie uns abhängig werden lässt, zorniges Reagieren, weil es uns von Menschen trennt. Dann löst sich vielleicht der Gegensatz zwischen zu straffer oder zu loser Spannung der Saiten als ein Scheinproblem auf. So verstehe ich Buddhas Anregung im Sattipatthâna-Sutta 7, wenn er von der rechten Achtsamkeit spricht, die der einzige Weg zum Schwinden von Schmerz, Trübsal und Klage sei: es geht darum, uns in jedem Moment bewusst zu machen, was soeben geschieht, was wir dabei empfinden und tun. Dann können wir vielleicht auch besser verstehen, unter welchen Bedingungen wir immer wieder mal gute Vorsätze ignorieren und die Zügel schießen lassen, und was uns hilft, zu dem, was wir für heilsam halten, zurückzukehren. Achtsamkeit hilft, die Saiten so zu spannen, dass sie klingen.
- Sona-Sutta, Pali-Kanon AN 6.55, dt. Übersetzung: http://vanaradari.blogspot.co.at/p/rechte-geschickte-anstrengung-der-noble.html ↩
- Näheres über diese von Moshe Feldenkrais entwickelte Form differenzierter Körperübungen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Feldenkrais-Methode ↩
- s. Shantidevas Bodhicharyavatara: in Stephen Batchelors Übersetzung: A-Guide-to-the-Bodhisattvas-Way-of-Life, Abschnitt 7: Enthusiasm: http://server.dream-fusion.net/jamchen/files/PDF%20Files/19361420-A-Guide-to-the-Bodhisattvas-Way-of-Life.pdf ↩
- Mit diesem Thema beschäftigt sich Winton Higgins ausführlich in seinem Artikel „Die Quellen von säkularem Buddhismus“ auf dieser Website. ↩
- Dies analysiert Bhikku Anâlayo im Detail in seinem Werk: Der direkte Weg – Sattipatthâna, als PDF zugänglich unter: http://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/fileadmin/pdf/analayo/DirekteWeg.pdf, S 47ff. ↩
- Darüber schreibt Winton Higgins ausführlich in dem unveröffentlichten Text: Disrobing the Dharma: Practising and teaching it free of the male monastic norm, 2010 ↩
- Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit, in deutscher Übersetzung: http://www.satinanda.de/thema-01/satipatthana-sutta.htm ↩
Liebe Evamaria, es ist Sonntagabend, wie immer schaue ich dann bei Euch rein, und hab anschließend mit goßem Interesse in Bhikku Anâlayus Artikel gelesen. Herzlichen Dank für Deinen anregenden Beitrag und den link! Chrisja
Liebe Chrisja,
wir freuen uns über Deine beständige Anteilnahme!
Zum Thema „skilfull effort“ ist übrigens in der aktuellen Nummer von „Tricycle“ ein lesenswerter Artikel von Peter Doobinin erschienen.
Herzlichen Gruß!
Evamaria