Stephen Batchelor über Shantidevas „Weg des Bodhisattva“

Bodhisattvas: diese Wesen, die das Erwachen, das sie anstreben, zum Wohle alles Lebendigen einsetzen wollen – habe ich mit denen etwas zu tun? Möglich. Lies hier über Shantidevas berühmten Text „Führer zur Lebensweise eines Bodhisattva“, den Stephen Batchelor ins Englische übersetzt hat1. Shantideva lebte wahrscheinlich im 7. oder 8. Jahrhundert u. Z. als Mönch in Nordindien. Über sein Leben ist nichts bekannt außer ein paar fragmentarischen Legenden: Unter seinen hochgebildeten Kollegen hatte er den Ruf, nichts zu tun als zu essen, zu schlafen und zu scheißen. In einem öffentlichen Vortrag sollte er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen; bei dieser Gelegenheit hätte er die 900 Verse des „Führer zur Lebensweise eines Bodhisattva“ rezitiert. Gegen Ende seiner Rede hätte sich sein Körper vom Sitzkissen erhoben, sei hoch bis in die Wolken gestiegen und verschwunden. Shantideva_webEr wurde gesucht und gefunden, wollte aber nicht ins Kloster zurückkehren und lebte von da an als Laie. Er vermied es, als öffentliche Person aufzutreten und schlüpfte in die Anonymität eines weltlichen Lebens. Sein Werk zeigt uns eine Vision, wie ein buddhistisches Leben aussehen könnte. Was den Text besonders anziehend macht, ist sein sehr persönlicher Ton – der Autor spricht zum Leser und zur Leserin und teilt mit ihnen sein eigenes Bemühen. Er bringt Lehren auf eine menschliche Ebene, die sonst abstrakte Doktrinen bleiben könnten. Und er hat eine große Gabe, sich durch poetische Bilder und Beispiele auszudrücken. Der Text beginnt mit einer Lobrede auf „Bodhicitta“, den Geist des Erwachens. Gemeint ist die Entschlossenheit, Erwachen zum Nutzen aller Lebewesen zu erlangen. „Bodhicitta“ ist die Triebkraft, die den „Bodhisattva“, das erwachende Wesen, motiviert. Shantideva beschreibt, wie Bodhicitta plötzlich in sein Leben eingetreten sei wie ein Blitz in einer dunklen, wolkigen Nacht. Dies – der Durchbruch zu tiefer Identifikation mit anderen Wesen – widerfährt ihm in seinem normalen Leben, in einem Moment von Gnade. Er gesteht ein, davor viele Fehler gemacht zu haben, die im Widerspruch zu dieser machtvollen Erfahrung der Zuwendung zu allen Lebewesen standen, und kommt schließlich dazu, „Bodhicitta“ zu preisen:

Möge ich ein Beschützer sein für die Schutzlosen, ein Führer für alle Reisenden unterwegs, eine Brücke, ein Boot und ein Schiff für alle, die übers Wasser wollen, eine Insel für die, die danach Ausschau halten, eine Lampe für die, die Licht suchen, ein Bett für die Ruhesuchenden und ein Diener für die, die Bedienung brauchen…Möge ich immer das Leben der unzähligen Lebewesen unterstützen, bis sie den Schmerz verlassen.

Die überwältigende Emotion, die hier ausgedrückt ist, kristallisiert sich in den Gelübden des Bodhisattva: Das Gefühl wird zum Entschluss und er beginnt mit der Praxis, die diesen Entschluss zur Blüte bringen soll. Er gelobt, wie seine Vorgänger im Geist des Erwachens zu leben. Der Kern dieser Gelübde lautet:

Die Zahl der Wesen ist unendlich; ich gelobe, sie alle zu erlösen Gier, Hass und Unwissenheit entstehen unaufhörlich; ich gelobe, sie zu überwinden Die Tore des Dharmas sind zahllos; ich gelobe, sie alle kennenzulernen Der Weg des Buddha ist unvergleichlich; ich gelobe, ihn zu verwirklichen

Nun folgt eine Art spiritueller Autobiografie. Am Anfang steht fast euphorische Begeisterung, und der unmöglich erscheinende Anspruch, um aller Wesen willen zu erwachen. In den nächsten Kapiteln folgt so etwas wie die Rückkehr in die Realität. An einer Stelle sagt er: Ich muss verrückt gewesen sein, dieses Gelübde abzulegen, ich kann das nicht umsetzen. Wegen des Ernstes, mit dem er gelobt hat, kann er sein Wort nicht brechen, und gerät in inneren Konflikt. Wir kennen das: ein Entschluss alleine reicht nicht aus, all die vorhandenen Konditionierungen und Gewohnheiten, die in eine andere Richtung führen, auszuschalten. Denken wir nur an Achtsamkeit: wir wollen achtsam sitzen und gleichzeitig will ein großer Teil von uns alles andere lieber sein als achtsam – dies erzeugt Spannung. Shantideva wird sich dieses inneren Kampfes bewusst, er stellt fest, dass er psychologisch schlecht ausgestattet ist für sein Ziel, aber seine persönliche Integrität nur aufrecht erhalten kann, wenn er seinem Entschluss folgt, der auf gewisse Weise unrealistisch und etwas „romantisch“ ist. Es folgen nun die Mittel, die helfen können, das Ziel zu verwirklichen, sich aus einem begrenzten und verwirrten Zustand in einen anderen zu entwickeln, in dem diese Grenzen überschritten werden. Das sind: ethisches Verhalten, Geduld, Einsatz, Meditation, Weisheit und Großzügigkeit. Ethisches Verhalten, also innere Klarheit und Integrität aufrecht zu erhalten, darin besteht für Shantideva Achtsamkeit – sich an den Entschluss zu erinnern, mit dem man sich verpflichtet hat. Er vergleicht den Geist mit einem Haus, und Achtsamkeit mit dessen Hüter an Fenstern und Türen, dem Zugang für die Sinne. So lange der Hüter wacht, kann er jede Bedrohung der Sicherheit des Hauses erkennen, die von den Dieben ausgeht, die das Haus umlagern: der Unachtsamkeit, die darauf lauert, dass er einschläft, um in das Haus des Geistes einzubrechen und die Schätze von Klarheit und Reinheit, die dort gesammelt sind, zu stehlen. Die Praxis der Achtsamkeit umfasst also Aufmerksamkeit den eigenen Entschlüssen, aber auch den potentiellen Kräften im eigenen Geist gegenüber, die diese stören können, wie etwa obsessive Gedanken oder Phantasien, die ihn plötzlich einengen. Shantideva schlägt weder vor, diese Kräfte zu unterdrücken, noch, ihnen zu folgen. Er empfiehlt, unbeweglich zu verharren wie ein Holzklotz, bei dem zu bleiben, was eben da ist und die Extreme zu vermeiden – also sich von Gegenkräften weder fortreißen zu lassen noch sie zu unterdrücken. Das ist sein Mittlerer Weg. Als nächstes folgt ein Abschnitt über Geduld, die er den Gegenspieler von Wut und Hass nennt. Wie gehe ich mit Aversion um, mit Hass, mit all diesen destruktiven Emotionen, die soviel Macht haben, uns in Konfliktsituationen zu treiben und von anderen Menschen zu entfremden? Shantideva verwendet viel Raum darauf, zu erörtern, wie man diesem zerstörerischen Feuer begegnen kann. Danach geht es um Einsatz: Freude in fachlichem Können zu finden. Dies wirkt gegen Faulheit, Nachgiebigkeit gegenüber negativen Einflüssen und Selbstverachtung aus Mutlosigkeit. Die psychologischen Einsichten in diesem Abschnitt bieten eine scharfsinnige Analyse über die „rechte Bemühung“. Shantideva nennt vier Aspekte.

  • Einmal das Streben: worum geht es dir in deiner Praxis, was motiviert dich? Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren, wenn Routine droht: uns immer wieder vor Augen zu führen: warum tue ich das?
  • Darauf folgt Selbstvertrauen, oder auch Stolz. Den Gelübden des Bodhisattva zu folgen, kann uns Selbstachtung und Mut geben, wenn wir uns durch Gefühle der eigenen Wertlosigkeit niedergezogen fühlen.
  • Der dritte Aspekt: Freude zu finden. Shantideva sagt, wer den Weg des Bodhisattva gehe, ähnele einem Kind, das zum Spielen hinausgeht, oder einem Elefanten, der, von der Mittagssonne gequält, in einen kühlen, erfrischenden See eintaucht.
  • Der vierte: zu wissen, wann es genug ist, seine eigenen Grenzen richtig einzuschätzen und Entspannung zu genießen.

Im folgenden Kapitel geht es um Meditation, und es beginnt mit einem Lob des Alleinseins:

Wann werde ich an Orte kommen, an denen ich nicht als Eigen hänge, die von Natur aus weit und offen sind? Wo ich mich verhalten kann, wie ich will, ohne an etwas festzuhalten? Wann werde ich ohne Angst leben können, nur mit einer Bettlerschale und ein paar wertlosen Dingen, in Kleidern, die niemand haben will?

Im Retreat angekommen, geht es um das Kultivieren von Bodhicitta selbst. Shantideva erstrebt, die ganze Welt als einen einzigen Organismus zu betrachten zu können:

So wie ich spontan die Hand ausstrecke, um den Schmerz des Fußes zu lindern, auch wenn die Hand nicht betroffen ist – warum strecke ich nicht die Hand aus, um den Schmerz eines anderen Menschen zu lindern?

Es ist eine Einstellung universeller Empathie, und man gelangt dorthin, indem man die schützenden Mauern gefühlloser Ichbezogenheit einreißt und zumindest in einzelnen Momenten versteht, dass das, was wir sind, aus einer Beziehungsmatrix mit anderen entsteht. Ich kann nicht Ich sein, ohne dass Du bist, und Sie und Er und Wir und Sie. Dieser Gedanke steht in Zusammenhang mit dem philosophischen Konzept von Selbst-Losigkeit.

Wie die Hände als Glieder des Körpers – warum werden Lebewesen nicht als Glieder des Lebens angesehen? Wenn ich so im Interesse anderer handle, werde ich keinen Dünkel über meine Großartigkeit entwickeln. Es ist einfach so wie mich selbst zu nähren, ohne Gegenleistung.

Mitgefühl in diesem Sinn ist nicht eine ihrer selbst bewusste moralische Handlung, es ist einfach nur eine spontane Reaktion, die entsteht, wenn jemand die schützende und ichzentrierte Obsession von sich selbst und den eigenen Interessen hinter sich gelassen hat. Man vollzieht dann nicht gute Taten als Buddhistin oder als Christ, sondern man kümmert sich einfach, so wie eine Mutter sich um ihr Kind kümmert. Weisheit schließlich ist nach Shantideva die befreiende Einsicht, die Begrenzungen und das Zögern des Selbst auf Dauer hinter sich lassen zu können. Der Text endet mit einer Widmung: der Autor gibt alles her, was er in seiner eigenen Praxis kultiviert und mit uns geteilt hat, und schenkt es der Welt:

Mögen Blinde Formen sehen und Taube Töne hören, mögen schwangere Frauen ohne Schmerz gebären, mögen die Nackten Kleidung finden und die Hungrigen Nahrung, mögen die Durstigen Wasser finden und die von Schmerz Geschwächten Freude…Mögen die Einsamen neue Hoffnung finden und dauerhaftes Gedeihen.

  1. veröffentlicht 1979, im Internet zugänglich als: http://server.dream-fusion.net/jamchen/files/PDF%20Files/19361420-A-Guide-to-the-Bodhisattvas-Way-of-Life.pdf . Eine Einführung zu Shantideva und seinem Hauptwerk gibt Batchelor unter: http://www.audiodharma.org/teacher/12/.Sie wird hier vorgestellt, Teile von Batchelors Vortrag sind wörtlich übersetzt. Zum Nachlesen auf deutsch: Der Weg des Lebens zur Erleuchtung: Das Bodhicaryavatara von Shantideva, übersetzt von Ernst Steinkellner, erschienen in Diederichs Gelber Reihe. Eine andere – allerdings unvollständige – Übersetzung findet sich im Internet auf: www.berzinarchives.com/

5 Antworten auf „Stephen Batchelor über Shantidevas „Weg des Bodhisattva““

  1. Liebe Evamaria, danke für diesen Text. Vor 20 Jahren etwa las ich sein „Eintritt in das Leben zur Erleuchtung“ mit großen Erwartungen und war dann ziemlich ernüchtert, als ich z.Bsp. VII, Vers 57-58 las:“ Der Stolz hat sie in ein schlechtes Geschick geführt; doch selbst wenn sie Menschen sind, sind sie freudlos, essen das Brot eines anderen, sind Sklaven, dumm, häßlich, schwächlich…“ Wie völlig lieblos er diese Menschen schildert; sie arbeiten eben ihr neg. Karma ab…Und immer wieder sein Hinweis auf schlimme Strafen in späteren Inkarnationen.- Naive Wünsche, wie der, es möge keine Krankheiten und keinen Tod mehr geben. Und jeder solle immer glücklich sein.( Als wäre das für uns Menschen so förderlich!) Und allen Frauen wünscht der Wohlmeinende, daß sie Männer werden. Mißgestalteten Asketen wünscht er vollkommene Schönheit, usw. Also ich hatte damals den Eindruck, er ist nicht so richtig ernst zu nehmen. Und wunderte mich, daß z.Bsp. der Dalai Lama diesen Text so schätzt. Aber Batchelor schätzt ihn offenbar auch, ich werde ihn mir nun nochmal zu Gemüte ziehen. Danke für die Anregung! Und danke für den Hinweis auf das You Tube Video, aich ich konnte diesem Lachen nicht widerstehen…

    1. Liebe Chrisja,
      Dein – gut informierter – Kommentar hat mich zum Nachdenken gebracht, wir haben ihn auch in unserer Gruppe diskutiert. Nicht wenige Sätze bei Shantideva, die wir heute nicht akzeptieren können und wollen, sind nur aus der Kultur Indiens im 9. Jahrhundert zu verstehen. Ein Beispiel wäre der Begriff Karma: das war einfach fixer Bestandteil des Weltbilds in Indien, auch zu Buddhas Zeiten, genau so wie die Vorstellung, dass die Welt eine Scheibe sei, und wurde daher kaum diskutiert und nicht in Frage gestellt.
      In der nächsten Nummer von „Buddhismus aktuell“ ( Oktober 2013) wird ein Artikel von Winton Higgins über „Die Quellen von säkularem Buddhismus“ erscheinen, in dem er sich unter anderem mit dieser Kulturabhängigkeit jeder Lehre auseinandersetzt.
      Ich werde Shantidevas Text noch genauer lesen. Stephen Batchelor hat mir jedenfalls in seinem Vortrag nahe gebracht, wie persönlich er schreibt, wie nachvollziehbar seine Gedanken über weite Strecken sind und wie lebensecht seine Bilder oft wirken. Und wenn er schreibt, wie er alle Wesen fördern will und ihnen Glück wünscht, wird mir warm ums Herz.
      In diesem Sinn, herzlich
      Evamaria

  2. Ja, liebe Evamaria, auch mich können seine Verse inspirieren und begeistern! Danke für Eure Resonanz, es tut mir immer gut, wenn ich meine Kritik aussprechen kann.

    1. Nun lese ich täglich in Shantidevas berühmtem „Eintritt in das Leben zur Erleuchtung.“ Viele Verse sind wirklich wunderschön und mitreißend, er war ein hochbegabter Poet, mit der Gabe, andere zu begeistern. Aber viele Verse werfen auch ein Licht auf die Nöte eines Mönches, der voller Angst ist, wegen der „höllischen Qualen“ (V,29), die er in zukünftigen Leben erleiden muß, wenn er z.Bsp.nicht stets konzentriert und bewußt ist (auch wenn man gläubig ist und sich anstrengt: ist man unbewußt, besudelt man sich mit Sünde. Unbewußtheit macht alle Verdienste zunichte, einer qualvollen Wiedergeburt kann man dann nicht entgehen.) . Die Angst vor den Meistern helfe, die Wachsamkeit nicht zu verlieren.- Man müsse sich verhalten, als sei man aus Holz (V, 34, 35), stets den Blick gesenkt halten, usw. -Der Körper sei eine stinkende Machine, usw.(V,61) Ob im Mahayana diese Angst vor dem Abgleiten in höllische Existenz stärker wurde, frage ich mich nun, oder ob es an der Persönlichkeit Shantidevas liegt, daß er so skrupulös reagierte. Aber wie im Christentum wurden wohl auch im Buddhismus neurotisierende Gewissensängste geschürt. Das ist vielleicht unvermeidlich bei der Entwicklung einer hochstehenden Ethik innerhalb einer spirituellen Tradition.

      1. Liebe aufmerksame Leserin Chrisja,
        auch ich finde bei Shantideva Haltungen und Ausdrücke, die mir rigid und selbstkasteiend zu sein scheinen. Einen Einwand hätte ich aber zu Deinen Beispielen – die Stelle, wo er schreibt:
        When, just as I am about (to act)
        I see that my mind is tainted ( with defilement)
        At such a time I should remain
        unmoveable, like a piece of wood. (Übers. Stephen Batchelor)
        Wie dem Übersetzer gefällt auch mir diese Stelle. Ich stelle mir eine Meditation vor, in der mich obsessive Gedanken oder Phantasien beschäftigen. Unbeweglich wie ein Stück Holz zu bleiben heißt hier für mich: mich ebenso wenig fortreißen zu lassen, noch etwas zu unterdrücken. Alles wahrnehmen, still bleiben, nichts damit tun, warten, bis es vorbei gegangen ist.

        Deine Folgerung, das Schüren neurotischer Gewissensängste wäre (vielleicht) unvermeidlich bei der Entwicklung einer hochstehenden Ethik innerhalb einer spirituellen Tradition, möchte ich in dieser Allgemeinheit – ohne jetzt Gegenbeispiele bringen zu können – mit einem großen Fragezeichen versehen.
        Ich persönlich habe es lieber weniger akademisch. Ich arbeite gerade an einem Beitrag über „rechtes Bemühen“, an Hand von Literatur, die ich dazu zusammengesucht habe. Das beschäftigt mich in meinem Alltag. Ich würde mich freuen, mich darüber mit Dir auszutauschen, wenn es soweit ist.
        Herzlich
        Evamaria

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