Nur ein Kôan ist wichtig – Du. Getreu diesem Satz- der traditionsbewusste Lehrer irritieren musste – hat der zen-buddhistische Mönch und Künstler Ikkyû Sôjun 1 im 15. Jahrhundert u. Z. in Japan sein Leben geführt. Ikkyû war der illegitime Sohn einer Hofdame, sein Vater war wahrscheinlich der Kaiser. Im Alter von fünf Jahren kam er in ein Kloster der Rinzai-Schule und erhielt eine gute Ausbildung in chinesischer Sprache, Musik und anderen Künsten. Schon als Jugendlicher machte er sich einen Namen als Dichter; gleichzeitig begann er, das in Konventionen erstarrte Leben der etablierten Mönche scharf zu kritisieren. In den Klöstern wurde Politik im Sinne des herrschenden Shogun und seiner Aristokratie gemacht. Ikkyû wandte sich lebenslang gegen klösterliche Scheinheiligkeit, Profitgier, Korruption und Vetternwirtschaft. Eine Praxis, die er scharf kritisierte, war der öffentliche Verkauf von „Erleuchtungszertifikaten“ (inka) durch Mönche gegen Protektion und Geld 2. Ein paar Beispiele aus seinen Gedichten 3:
Wer von Rinzais Schülern schert sich um die wahre Überlieferung? In ihren Schulen ist kein Obdach für den blinden Esel 4, der, unterwegs mit Stab und Strohsandalen, Wahrheit findet. Dort übt man Zazen auf sicherem Boden, bequem zurückgelehnt, für eigenen Gewinn.
und:
Jeden Tag studieren Priester ganz genau den Dharma und singen endlos die schwierigen Sutren. Doch zuvor sollten sie erstmal lernen, Liebesbriefe zu lesen, die Wind und Regen, Schnee und Mond schicken.
oder:
Bücher, Kôan und Zazen verfehlen das Herz, nicht aber die Gesänge der Fischer. Regen wirft sich auf den Fluss. Ich singe mein Lied jenseits von alledem.
Ikkyû verließ den erhabenen Tempel in Kyoto mit sechzehn Jahren und praktizierte jahrelang in kleinen Klöstern Meditation. Man sagt, er hätte eines Nachts im Boot auf einem See beim Schrei einer Krähe ein Erlebnis des Erwachens gehabt; die schriftliche Bestätigung seines Lehrers warf er ins Feuer. Er studierte und lehrte lebenslang den Dharma, wandte sich aber vehement dagegen, wie er aus (macht)politischen Motiven in der Klosterhierarchie entstellt und missbraucht wurde. Im Alter von dreiunddreißig Jahren ging er auf Wanderschaft; er zog fast dreißig Jahre im Gebiet um Kyoto und Osaka durchs Land, freundete sich mit vielen Menschen aus allen Schichten an, die seinen Weg kreuzten und lehrte, wo es sich ergab. Er hatte Kontakt mit vielen Künstlern seiner Zeit und war selbst nicht nur ein gefeierter Dichter, sondern auch Kalligraph und Flötenspieler, und einer der ersten Teezeremonien-Meister. Dabei war er auf weltliche Genüsse aus und machte auch kein Geheimnis daraus:
…wenn ihr mich finden wollt sucht mich auf dem Fischmarkt, in der Trinkstube oder im Puff.
Er brach Tabus, wo immer es ihm gefiel. In einer kalten Nacht soll er einmal in einem Tempel, wo er zu Gast war, eine hölzerne Buddhastatue verbrannt haben, um sich zu wärmen. Als sein Gastgeber ihm Vorwürfe machte und sagte: Wie kann ein Gelehrter des Zen so lästerlich handeln?, stocherte Ikkyû in der Asche und erklärte, er suche nach Knochen. Auf die Frage, wie er darauf komme, erwiderte er: Nun, die Statue hatte keine Knochen, aber meine Knochen wollten letzte Nacht gewärmt werden – so opferte ich den hölzernen Buddha dem lebendigen. Am nächsten Tag saß er betend vor einem Grenzstein und erklärte: Letzte Nacht war mir nach Wärme, jetzt ist mir nach Beten, und die Buddhafigur ist ja nicht mehr da. Ein andermal hätte ihm beim Betteln ein reicher Mann nur eine wertlose Münze gegeben. Ikkyû sei in der formellen Robe eines Zen-Meisters wiedergekommen und zu einem üppigen Essen geladen worden. Da habe er die Robe abgelegt und sei mit der Bemerkung gegangen, das Essen wäre der Robe angeboten worden, nicht ihm. Ikkyû feierte sinnliche Freuden, vor allem Sexualität:
Das Krächzen der Krähe war schon in Ordnung. Doch eine Nacht mit einer lieben Dirne schenkte mir tiefere Weisheit als die Worte des Vogels.
Seinen Schülern riet er oft, gemäßigter zu leben als er. Gleichzeitig zieht sich aber durch seine Gedichte als Leitmotiv das Bild vom „roten Band“: wir Menschen können Leidenschaft und Begehren nicht abstreifen, solange wir am Leben sind. Er erzählte gern die Geschichte von einer Frau, die viele Jahre lang einen frommen Einsiedler beherbergte und verpflegte. Eines Tages schickte sie ihre Magd mit dem Auftrag, sich auf seinen Schoß zu setzen und ihn innig zu umarmen. Auf die Frage, was er dabei fühle, antwortete er: „Ein kahler Baum am kalten Fels, im Winter kennt er keine Wärme“. Als seine Wirtin das hörte, sagte sie, gänzlich unempfindlich könne sich nur ein Heuchler geben, oder ein Leichnam, beides wolle sie nicht verehren; und sie schickte ihn fort. Richtig erwischt hat es Ikkyû im Alter von 77 Jahren. Da begann er eine leidenschaftliche Beziehung mit der Sängerin Shin 5, einer blinden Nonne, die vier Jahrzehnte jünger war als er. Seine Gedichte an sie sind Meisterwerke erotischer Literatur 6:
Shin singt frei jeder Eitelkeit im Pavillon – es ist Abend und es regnet Zärtlichkeiten. Ich war wie ein alter Baum ohne Blätter, bis wir uns trafen. Nun sprießen grüne Knospen, und jetzt, wo ich dich habe, werde ich nie vergessen, was ich dir schulde. Shin, du bist alle Bäume des Frühlings. Die Besucher sind fortgegangen, die Lieder versiegt – nichts, Stille.
Diese Verse klingen, als wäre er selbst zur Ruhe gekommen. Aber Shin starb noch vor ihm. In seinen letzten Jahren kümmerte er sich um die Opfer eines Krieges, der in der Region zehn Jahre lang gewütet hatte, und arbeitete am Wiederaufbau eines Haupttempels in Kyoto mit, zu dessen Abt er – trotz seines schlechten Rufs – noch bestellt wurde. Auch als alter Mann versuchte er nicht, sich mit Spekulationen über ein künftiges Leben zu trösten:
Wenn es am Ende unserer Reise gar keinen Ort zum Ausruhen gibt, dann müssen wir uns auch nicht sorgen, den Weg zu verlieren. Bleiben etwa unsere Vergehen zurück? Alle Vergehen, die wir in den drei Welten begangen haben, werden mit uns verschwinden.
Ikkyû Sôjun starb im Alter von 88 Jahren an einem hitzigen Fieber. Er war schon zu Lebzeiten so berühmt wie umstritten, und seine Popularität in Japan hält bis heute an. Dazu hat besonders eine Manga-Serie des berühmten Künstlers Hisashi Sakaguchi aus den Jahren 1993 -1995 beigetragen 7.
- eine Kurzzusammenfassung über sein Leben und Werk gibt es z.B. unter: http://buddhism.about.com/od/whoswhoinbuddhism/fl/Ikkyu-Sojun.htm ↩
- das erinnert stark an den Ablasshandel, der ungefähr gleichzeitig im christlichen Europa grassierte und zu einem wichtigen Anstoß für Martin Luthers Reformbestrebungen wurde ↩
- Eine Auswahl ist unter dem Titel: Ikkyû Sôjun – Gedichte von der verrückten Wolke im Angkor-Verlag 2007 erschienen ↩
- so hat Ikkyû sich selbst genannt ↩
- nach anderen Quellen: Mori ↩
- In der erwähnten Sammlung gibt es viele Texte unverhüllt sexuellen Inhalts ↩
- s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Ikkyu_%28Manga%29. Die Mangas sind in vier Folgen in deutscher Übersetzung erhältlich: Ikkyû, Bd. 1-4, Carlsen-Verlag 2008 ↩