Die US-Amerikanerin Joanna Macy geboren 1929, ist Öko-Philosophin und Buddhistin, Systemtheoretikerin und Aktivistin der Bewegung für Tiefenökologie. Seit mehr als 40 Jahren schreibt und handelt sie in zahlreichen Büchern und Workshops für Frieden, Gerechtigkeit und nachhaltige Ökologie. Mehrere Jahre nach der Reaktorkatastrophe von 1986 in Tschernobyl leitete sie mit ihrem Ehemann und russischen Freunden einen Workshop in Nowosybkow, einer Stadt von 40.000 Einwohner unweit des Unglücksortes, wo die Folgen des massiven Austritts von Radioaktivität bis heute massiv sind. Es gibt zahlreiche Fehlgeburten, Missbildungen bei Säuglingen und Krebsfälle unter Erwachsenen und Kindern. In der Wohnung der Familie, bei der Joanna untergebracht war, war eine Zimmerwand mit der Fototapete eines dichten Waldes geschmückt. Der Familienvater zeigte ihr seinen Geigerzähler und erklärte, dass der Wald, der unmittelbar hinter dem Stadtgebiet läge, so kontaminiert sei, dass weder er selbst noch seine Enkelkinder ihn zu ihren Lebzeiten je betreten würden können. So müssten sie sich mit der Tapete begnügen. An dem Workshop nahmen 50 Menschen teil. Im Gegensatz zu Personen in weniger betroffenen Gebieten, die detailliert über ihre chronische Erschöpfung, die gehäuften Infektionen und die vielen Krebsfälle erzählt hatten, schwiegen die Menschen in Nowosybkow über das Elend, in dem sie den Rest ihres Lebens verbringen würden müssen. Sie erzählten von ihrem Familienleben und teilten Erinnerungen aus den Jahren vor der Atomkatastrophe. Vom Horror des Jahres 1986 wollten sie nicht sprechen, bis es schließlich doch aus ihnen heraus brach: der heiße Südwestwind in jenem furchtbaren Frühling, die weiße Asche, die vom klaren Himmel fiel, die Kinder, die darin spielten, der dichte Regen, der folgte, die Gerüchte, die Angst. Beim Erzählen flossen viele Tränen, gleichzeitig kam auch die Frage an Joanna und ihre Freunde: warum tut ihr uns das an, wenn ihr uns nicht befreien könnt von dem, was hier immer noch geschieht? Joanna, selbst betroffen und ratlos, antwortete mit der Schilderung des nach dem Krieg zerstörten Deutschland, als die Menschen alles darangesetzt hätten, das Land so schnell wie möglich wieder aufzubauen und ihren Kindern das Leid zu ersparen, das sie erlebt hatten. Sie hätten ihnen im Wirtschaftswunderland alles für ein Leben in Wohlstand und Sicherheit geboten, aber eines hätten sie ihnen vorenthalten: ihren Schmerz. Das hätten ihnen die Kinder nicht verziehen. MIt dieser Erzählung berührte sie die Menschen in Nowosybkow; einige sprachen davon, dass es jetzt zwar erneut weh täte, aber dass sich das richtig anfühle, und sie hörten ihr zu, als sie von Gruppen und Initiativen auf der ganzen Welt sprach, die sich dafür einsetzten, dass derartige Katastrophen sich nicht wieder ereigneten. Denen wollte sie von ihnen – mit denen sie sich jetzt eng verbunden fühlte – erzählen. Das hat sie auch getan. 1 In einem anderen Zusammenhang sagt Joanna Macy: Es herrscht riesige Angst, und das ist keine individuelle Angelegenheit. Wir sind in der Seele krank. Wir haben Schmerz pathologisiert, wir haben ihn zu etwas Falschem gemacht, zu einem Fehler, anstatt zur Kenntnis zu nehmen, dass wir Schmerz nötig haben, um uns wach zu machen für das, was Aufmerksamkeit braucht. Aber wir behandeln ihn wie einen Feind… Es gibt Schmerz. Und wenn du irgendwo hinkommen willst, meine Liebe, wenn du wachsen, wenn du dein Leben öffnen willst, wenn du erleuchtet werden willst oder wie immer du den Zustand beschreibst, den du suchst, musst du dich dem stellen. Wie in dem Gedicht von Mary Oliver: Erzähl mir von deiner Verzweiflung, und ich erzähl dir von meiner. Das erlaubt der Welt, lebendiger zu werden – wenn wir den Mut und die Stärke haben, von unserer Verzweiflung zu sprechen. Wenn wir darüber reden, bleiben wir nicht darin stecken. Verzweiflung ist die Hülle um unsere Liebe zur Welt, und wenn wir darüber sprechen, brechen wir sie auf, sodass die Liebe handeln kann. Der Schlüssel liegt darin, keine Angst zu haben vor unserem Schmerz und vor dem Leiden in der Welt. Und wenn du keine Angst davor hast, kann nichts dich aufhalten.
die Geschichte entstammt dem Buch: Macy, Joanna und Gahbler, Norbert: Pass it on. Five Stories that can change the world, Berkeley 2010 ↩
Im März 2013 fand im Barre Center for Buddhist Studies in Massachusetts, USA, ein „Secular Buddhism colloquium“ statt. Winton Higgins, ein australischer Teilnehmer, hat uns einen Bericht zur Verfügung gestellt, dessen Hauptinhalte wir hier wiedergeben wollen. Den Anstoß zu der intensiv vorbereiteten Veranstaltung gaben Andrew Olendzki, der Direktor des einladenden Instituts, und Stephen Batchelor. 32 eingeladene Personen, 23 Männer und 9 Frauen, nahmen teil. Darunter waren Lehrende in Gemeinschaften buddhistischer Praxis, WissenschaftlerInnen in den Bereichen religiöse Studien, Philosophie und Neurowissenschaften, sowie PsychotherapeutInnen. coque iphone xr Worum ging es? Die „Idee“ hinter dem Meeting wurde so formuliert: Der Ausdruck ‚Säkulärer Buddhismus‘ beschreibt eine Tendenz, die Religiosität des Buddhismus zugunsten der praktischen Anwendbarkeit buddhistischer Ideen und Konzepte im Kontext der Moderne in den Hintergrund treten zu lassen. Es geht um skeptische Betrachtung von traditionellen Doktrinen und Modellen von Autorität, die für die Praxis des Dharma in der heutigen zunehmend säkularisierten Welt wenig Bedeutung haben. Der Untertitel „die Nikayas neu denken“ sollte den Bezug zu den ältesten Lehren im Pali-Kanon deutlich machen. Gedacht war die Veranstaltung als „think-tank“ zur inhaltlichen Abgrenzung verschiedener Zugänge, und so lief sie auch ab, nicht als Gründungskongress einer säkular-buddhistischen Bewegung. Die Tagung fand in warmer und großzügiger Atmosphäre statt, gut organisiert wie ein wissenschaftlicher Kongress, aber ohne das übliches Beiwerk wie Ego-Dominanz, Klüngelbildung, Sauftouren und Bettgeschichten. coque iphone xs max Unterschiedliche Erfahrungen, Ausgangspunkte und Erwartungen wurden in kreativer Weise untersucht. Aus der Sicht des Berichterstatters gab es vier Hauptthemen: Gender/Geschlecht: das Geschlechterverhältnis unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern war unbefriedigend. Es scheint tatsächlich (noch) wenige Frauen außerhalb ‚traditioneller‘ buddhistischer Gruppen zu geben. Im Verlauf der Diskussionen dominierten Männer oft unreflektiert; hier ist in Zukunft mehr Aufmerksamkeit seitens der Moderatoren gefordert. Alle Buddhistinnen und Buddhisten sollten feministisch denken und entsprechend miteinander umgehen. coque iphone xrSäkularität-Religiosität: das von Stephen Batchelor und anderen entwickelte Konzept einer facettenreichen, diesseitigen Säkularität wurde außerhalb der USA entwickelt; Amerikaner haben historisch einen eigenen Zugang zu dem Thema. coque iphone x In den USA bedeutet „säkular“ üblicherweise „anti-religiös“; diese semantischen Unterschiede wurden intensiv diskutiert. Dass es ganz andere Sichtweisen gibt, erwähnt der Berichterstatter am Beispiel Neuseelands, wo es seit langem ein starkes säkulares Christentum gebe. Szientismus vs. Interpretation: NeurowissenschaftlerInnen präsentierten unter anderem Ergebnisse von klinischen Untersuchungen an meditierenden Personen. Es wurde diskutiert, was die gefundenen Zusammenhänge bedeuten. Es besteht das Risiko, den menschlichen Geist auf beobachtbare und quantifizierbare neuronale Funktionen zu reduzieren, und den Dharma auf eine Übung zur Verbesserung ihrer Funktionstüchtigkeit. Es geht darum, die Bedeutung der Interpretation der Bewusstseinserfahrungen und Geisteszustände jedes Menschen in seiner einzigartigen existentiellen Situation herauszuarbeiten. Wissenschaft selbst wird in diesem Zusammenhang als eine Form von Kultur gesehen, die aus ihrem historischen Kontext verstanden werden soll.Abgrenzung von Dharma und Psychotherapie: Achtsamkeitspraxis ist heute in der westlichen Welt weit verbreitet, nicht zuletzt durch Psychotherapieformen, die darauf basieren. Diese hätten sich auf den Dharma berufen, aber gleichzeitig den darin ausdrücklich formulierten ethischen und gemeinschaftlichen Kontext eliminiert. Anstelle dessen wurde damit schon viel Geschäft gemacht, verpackt und verkauft als „evidenzbasierte“ therapeutische Effektivität. Die Grenze zwischen Dharma-Praxis und Psychotherapie ist keine klare Linie, sondern eher ein Graubereich. coque iphone xs max Dieser sollte weiter untersucht werden. In der klinischen Praxis muss herausgefunden werden, was am besten funktioniert, und gleichzeitig sollten wir die Integrität des Dharma anerkennen, der nicht Psychotherapie ist, sondern eine Art zu leben. Die Inhalte des Kolloquiums sollen als Buch herausgegeben und das gesamte Material mutltimedial verfügbar gemacht werden. Am Ende waren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig darin, dass die Veranstaltung in den formellen Sitzungen wie auch im informellen Austausch außerordentlich wertvoll gewesen sei und unbedingt wiederholt werden sollte. coque iphone pas cher
für Übersetzung und Auswahl der Inhalte: Evamaria, 19. 4.
Zu dem schönen Text von Martine Batchelor passt, so glaube ich, sehr gut ein Gedicht der amerikanischen Kabarettsängerin, Schauspielerin und Autorin Portia Nelson. Das Gedicht aus ihrem Buch „There’s a Hole in My Sidewalk: The Romance of Self-Discovery“ wurde in der Selbsthilfebewegung populär und ist auch in Sogyal Rinpoche´s „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“ abgedruckt. AUTOBIOGRAFIE IN FÜNF KAPITELN Ich gehe die Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich falle hinein. Ich bin verloren … Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht meine Schuld. Es dauert endlos, wieder herauszukommen. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich tue so, als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld. Immer noch dauert es sehr lange, herauszukommen. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich sehe es. Ich falle immer noch hinein … aus Gewohnheit. Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin. Es ist meine Schuld. Ich komme sofort heraus. Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Gehsteig. Ich gehe darum herum. Ich gehe eine andere Straße.
Warum äußern sich Buddhisten kaum jemals zu gesellschaftspolitischen Themen? wurde der Präsident der Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft kürzlich in einem Interview gefragt. Gute Frage, dachte ich mir, als ich heute demonstrieren ging. Seit bald zwei Monaten sitzen in der großen, kalten Wiener Votivkirche knapp 50 Flüchtlinge und Asylwerber, viele von ihnen im Hungerstreik. Es geht ihnen für sich selbst und für Menschen in ähnlichen Situationen darum, vor Abschiebung sicher zu sein, besser untergebracht zu werden als bisher und mehr Zugang zum Arbeitsmarkt zu bekommen. Für all das gibt es Gesetze in Österreich, die allerdings von Betroffenen und vielen Fachleuten kritisiert werden. Politiker aller Couleurs bis zum Bundespräsidenten haben die Männer in der Kirche unter Hinweis auf die Gesetzeslage mit unterschiedlichem Nachdruck wissen lassen, ihre Aktion sei sinnlos und wirkungslos. Jedenfalls hat sie fürs erste dazu geführt, dass die Anliegen von Flüchtlingen und Asylwerberinnen in der Öffentlichkeit stärker präsent sind und mehr diskutiert werden. Die paar tausend friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten aller Altersgruppen und Hautfarben, mit denen ich heute unter Slogans wie no border – no nation – no deportation und kein Mensch ist illegal durch Wien gezogen bin, vertreten die Meinung, dass neue Gesetze gemacht und alte geändert werden können. De facto geschieht das in den verschiedensten Bereichen laufend in Österreich, in Europa, in allen Ländern; es hängt nur von der Stärke der Gruppe ab, die sich dafür einsetzt. Und dabei geht es nach dem berühmten Satz von Margaret Mead nicht in erster Linie um ihre Größe: Never doubt that a small group of thoughtful, committed citizens can change the world. Indeed, it is the only thing that ever has. Wir könnten einfach die Anliegen der Männer in der Votivkirche, die für zehntausende Menschen in ähnlichen Situationen sprechen oder schweigen, zu den unseren machen.
Unter diesem leicht skurrilen Titel hat Stephen Batchelor vor drei Jahren einen Artikel veröffentlicht, in dem er nicht nur seine Einstellung zu Karma und Wiedergeburt darlegt, sondern auch, worum es ihm – jenseits dieser beiden umstrittenen Begriffe – als atheistischem Buddhisten geht. Sein Text hier in deutscher Übersetzung 1:
Kann ich ein Buddhist sein ohne daran zu glauben, ich könnte den Hirntod überleben, um in der Gebärmutter eines Schakals oder in einem Papageien-Ei wieder geboren zu werden? Kann ich ein Buddhist sein ohne an die Existenz einer Hölle zu glauben, wo ich bei lebendigem Leib in einem Menschenkörper mit Fischkopf für tausende Jahre geröstet werden könnte, bis ich meine Untaten abgebüßt hätte? Kann ich ein Buddhist sein und bezweifeln, dass Buddhas Körperhaare dunkelblau gefärbt seien wie indische Augensalbe und im Uhrzeigersinn in Kreisen wüchsen? Kann ich ein Buddhist sein und nicht daran glauben, dass Meister der Meditation ihre Körper vervielfachen, durch Wände und Berge gehen, durch die Erde wie durch Wasser tauchen, wie ein Vogel durch den Raum fliegen, und Mond und Sonne mit ihren Handflächen berühren können? Diese Beispiele sind nicht einem esoterischen tibetischen Text entnommen. Man findet sie in den frühesten Lehrreden des Buddha, wie sie im nüchternen Pali-Kanon aufgezeichnet sind. In der Einschätzung vieler Buddhisten würde eine solche Leugnung dazu führen, dass ich nicht mehr als Mitglied unter den Gläubigen anerkannt würde. Sie würden es verwirrend, wenn nicht verletzend finden, dass ich überhaupt auf die Idee käme, mich als Buddhisten zu sehen. Es wäre vergleichbar damit, dass jemand die Existenz Gottes leugnet und sich gleichzeitig als praktizierenden Muslim bezeichnet. Für die Frommen ist der Buddhismus eine Religion wie alle anderen, mit seinem eigenen Anteil von merkwürdigen und wundervollen Dogmen. Da ich nur ein westlicher Konvertit bin, ist es sicher nicht meine Sache, Wahrheiten in Frage zu stellen, die von Leuten, die viel weiser und versierter sind als ich, immer wieder bestätigt worden sind. Anstatt dessen sollte ich den Dünkel meines Ego ablegen und demütig anerkennen, dass ich einer weit größeren Bestimmung teilhaftig bin, die sich über Millionen von Lebenszyklen in Myriaden von Gefilden erstreckt, im Vergleich mit denen unser kurzer Aufenthalt auf diesem dürftigen Planeten zur Bedeutungslosigkeit verblasst. Aus einer traditionellen Perspektive ist es nicht nur irrig, sondern auch unmoralisch, eine solche Weltsicht abzulehnen. Zu glauben, dass es keine Wiedergeburt und kein Gesetz moralischer Kausalität gibt, ist ein Akt des Bösen, der in diesem Leben zu Verwirrung und Seelenqual führen wird und zu Höllenfeuer in der kommenden Welt. Dafür braucht man nichts zu sagen oder zu tun; dafür ist nur nötig, sich im privaten Denken eine unrichtige Meinung zu bilden. Das ist ein Gedankenverbrechen und als solches in den klassischen Texten neben Mord, Raub und Vergewaltigung aufgezählt. Tatsächlich wird „falsche Sichtweise“ der schwerwiegendste von allen Akten des Bösen genannt, da sie den Standpunkt festlegt, von dem alle anderen Untaten ausgehen. Wenn ich nicht an potentiell zahllose zukünftige Lebenszyklen glaube, in denen die unerbittlichen Gesetze des Karma regieren, was würde mich davon abhalten – so wird argumentiert – , jedem Verlangen nach Lüge und Diebstahl nachzugeben und jeden Impuls von Ärger in einem Gewaltakt auszuleben? Welches denkbare Motiv hätte ich, Gutes zu tun, wenn mich nach dem Tod nichts als Vergessen erwartet? Buddhisten, die sich um mein Wohlergehen Sorgen machen, stellen mir oft solche Fragen. Wie andere Religionen lehrt der Buddhismus eine mechanische Moral von Strafe und Belohnung, deren Früchte vor allem nach dem Tod geerntet werden. Wenn du Gutes tust, könntest du in einem der zahlreichen Himmel wieder geboren werden; wenn du Böses tust, wirst du für eine der vielen Höllen vorgesehen. Eine solche Gerechtigkeit wird nicht von einem allwissenden und allmächtigen Gott garantiert, sondern von einem unpersönlichen und unerbittlichen moralischen Gesetz, das dem Aufbau der Wirklichkeit direkt immanent ist. Glücklicherweise dauern buddhistische Höllen eher Jahrtausende lang als die Ewigkeit; unglücklicherweise trifft das auch für die Himmel zu. Das Ziel ist es daher, den Runden des Wiedergeborenwerdens und Sterbens überhaupt zu entkommen, indem man die Begierde stoppt, die aus Unwissenheit entsteht und den Kreislauf der kosmischen Misere am Laufen hält. Anstatt sich darum zu bemühen, die Bedingungen hier auf der Erde zu verbessern, ist das beste an Liebe und Mitgefühl, was man tun kann, anderen dabei zu helfen, aus dem Kreislauf auszusteigen. In der erhabenen Ordnung der Dinge ist das Schicksal dieser Welt von relativ geringer Bedeutung. Eine deutliche Schwäche dieser Metaphysik ist, dass sie so durchsichtig und simpel anthropomorph ist. Das, was angerufen wird, um zu erklären, was jenseits der Reichweite menschlicher Erfahrung liegt, stellt sich als ein verzerrtes Spiegelbild der menschlichen Verfasstheit selbst heraus. Denn was sind die Göttern anderes als langlebige, dünkelhafte Menschen, die sich der Art von Utopie erfreuen, nach der sich Träumer und Kinder sehnen? Was sind die Titanen, wenn nicht aufgeblasenen, ehrgeizige Leute, die den Erfolg anderer nicht ertragen können, aber zu schwach sind, sie zu überwinden? Was sind die Peta (Geister) anderes als Karikaturen menschlicher Wesen, die von unstillbaren Begierden gequält werden? Was sind Höllenwesen, wenn nicht Leute, die von schrecklichen Schmerzen geplagt werden? Der einzige Bereich, der seinen menschlichen Ursprung nicht leugnet, ist der der Tiere, gleichzeitig – was nicht überrascht – der einzige, von dem wir direkte Erfahrungen haben. Was das Gesetz moralischer Kausalität („Karma“) betrifft: das ist menschliche Gerechtigkeit, als kosmische Gerechtigkeit verkleidet, die dem unpersönlichen Wirken der natürlichen Welt zugeschrieben wird. Aber die natürliche Welt ist nicht fairer oder gerechter als sie grausam ist. „Fairness“, „Gerechtigkeit“ und „Grausamkeit“ sind menschliche Attribute, und wir neigen dazu, sie auf nicht-menschliche Wirklichkeiten zu projizieren. Wenn der Löwe seine Zähne ins Genick einer Antilope schlägt, begeht er nicht eine grausame und böse Tat, für die er in einem nächsten Leben bestraft werden wird, genauso wenig wie die Antilope ihre gerechte Strafe bekommt für etwas Garstiges, das sie in einer früheren Existenz getan hat. Aber so würde klassischer Buddhismus das verstehen. Natürlich ist es tragisch, dass eine begabte junge Musikerin einen langsamen, quälenden Tod an Multipler Sklerose sterben muss, genauso wie es anstößig ist, dass ein korrupter, mörderischer Politiker ein langes und gesundes Leben im Luxus führen kann. Aber diese Tatsachen als die Konsequenzen von Handlungen zu erklären, die in früheren Leben verübt wurden und sich damit zu beschwichtigen, dass es nach dem Tod Gerechtigkeit geben werde, bedeutet, sich an Tröstungen zu klammern. Solange jemand an einer solchen Metaphysik festhält, desto weniger wird er geneigt sein, sich der Suche nach einem Heilmittel für Multiple Sklerose zu widmen oder eine Kampagne für Transparenz und Rechenschaftspflichten in der Politik zu führen: die einzigen Dinge, die tatsächlich etwas bewirken könnten. Mein erster tibetischer Lehrer Geshé Dargyey sagte uns einmal, wir würden mehr „Meriten“ (d.h. karmische Verdienste) erwerben, wenn wir ein Kloster und nicht ein Krankenhaus bauten. Er hatte nichts gegen Krankenhäuser – zweifellos hätte er ihren Bau begrüßt und die Arbeit von Ärzten und Krankenschwestern gelobt. Aber im großen Ganzen kann ein Krankenhaus den unvermeidlichen Zusammenbruch des Körpers und den Tod höchstens um ein paar Jahre hinauszögern und anderen dabei eine gute Gelegenheit bieten, Mitgefühl zu üben. Weit besser sei es daher, ein Kloster zu stiften und die Ausbildung von Mönchen zu fördern, die lehren können, wie man nicht mehr wieder geboren wird; und das gehe das Problem an der Wurzel an , anstelle der Heilung des Krebs im Körper, der in jedem Fall sterben wird. „Kein Kopf“, erinnere ich mich Geshé-la augenzwinkernd sagen gehört zu haben, „dann kein Kopfschmerz“. Vom Standpunkt orthodoxer buddhistischer Doktrin ist das ein völlig vernünftiges und stichhaltiges Argument. Was seine Fähigkeit betrifft, zu erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist, unterscheidet sich der Glaube an Wiedergeburt und Karma nicht vom Glauben an Gott. Beide fungieren als Mittel, dem, was sonst sinnlos und unfair erscheint, Sinn zu verleihen. Wenn ein christliches Paar ein hirngeschädigtes Kind bekommt, ist das der unerforschliche Wille Gottes, während es für ein buddhistisches Paar die Folge der Taten des Kindes in einem früheren Leben ist. Beide Erklärungen sind gleichermaßen unbeweisbar wie unwiderlegbar. Aber beide geben der Tragödie einen Sinn und platzieren sie in einem wohldefinierten Rahmen moralischer Verpflichtung und Verantwortung. Vielleicht ist das ein Grund, warum solche Überzeugungen von der Evolution ausgewählt wurden und so tief in der menschlichen Psyche verwurzelt sind. Wäre das Leben ohne sie für vernunftbegabte Wesen nicht zu verwirrend und schmerzlich, als dass man es ertragen könnte? Als buddhistischer Atheist lehne ich die Lehren von Karma und Wiedergeburt ab, so wie ein christlicher Atheist den Glauben an einen transzendenten Gott ablehnen würde. Aber ich tue das als Buddhist, als einer, der sich die Leitlinien von Werten, Gedanken und Praktiken zu eigen gemacht hat, die Siddhattha Gotama vor mehr als zweitausend Jahren formuliert hat. Ich lehne Karma und Wiedergeburt nicht nur deshalb ab, weil ich sie für unverständlich halte, sondern weil ich glaube, dass sie das, was Buddha sagen wollte, verschleiern und entstellen.
Wenn ich Bilder von Leichen sehe, die im Wasser treiben, wenn ich höre, dass mehrere hundert Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen im Mittelmeer ertrunken sind, wenn ich lese, dass daraufhin Europas Grenzen noch dichter gemacht werden, spüre ich den Impuls, all das gar nicht wissen zu wollen, und fühle mich ratlos und hilflos.
Brichst du auf gen Ithaka, wünsch’ dir eine lange Fahrt, voller Abenteuer und Erkenntnisse. Die Lästrygonen und Zyklopen, den zornigen Poseidon fürchte nicht, solcherlei wirst du auf deiner Fahrt nie finden, wenn dein Denken hochgespannt, wenn edle Regung deinen Geist und Körper anrührt. Den Lästrygonen und Zyklopen, dem wütenden Poseidon wirst du nicht begegnen, falls du sie nicht in deiner Seele mit dir trägst, falls deine Seele sie nicht vor dir aufbaut. Wünsch dir eine lange Fahrt. Der Sommer Morgen möchten viele sein, da du, mit welcher Freude und Zufriedenheit! in nie zuvor gesehene Häfen einfährst; halte ein bei Handelsplätzen der Phönizier und erwirb die schönen Waren, Perlmutt und Korallen, Bernstein, Ebenholz und erregende Essenzen aller Art, so reichlich du vermagst, erregende Essenzen; besuche viele Städte in Ägypten, damit du von den Eingeborenen lernst und wieder lernst. Immer halte Ithaka im Sinn. Dort anzukommen, ist dir vorbestimmt. Doch beeile nur nicht deine Reise. Besser ist, sie dauere viele Jahre; und alt geworden lege auf der Insel an, reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst, und hoffe nicht, dass Ithaka dir Reichtum gäbe. Ithaka gab dir die schöne Reise. Du wärest ohne es nicht auf Fahrt gegangen. Nun hat es dir nicht mehr zu geben. Auch wenn es sich dir ärmlich zeigt, Ithaka betrog dich nicht. So weise, wie du wurdest, und in solchem Maß erfahren, wirst du ohnedies verstanden haben, was die Ithakas bedeuten.
Konstantinos Kavafis (1863-1933) übersetzt von Wolfgang Josing und Doris Gundert
Ich habe dieses Gedicht einmal gelesen bei der Suche nach etwas Besonderem für jemanden, der Geburtstag hatte, und ich habe eine Antwort gefunden auf die Frage, warum ich mich immer wieder an den Lästrygonen und Zyklopen gestoßen habe: weil ich sie in mir trage, weil ich sie gegen mich stelle. Dann dachte ich zu meiner Verwunderung, dass ich vielleicht nicht versuchen hätte sollen, sie zu vermeiden, da sie sowieso immer mit mir sind. Ich hätte was anderes machen sollen…vielleicht sie treffen, wie Odysseus schließlich, und Niemand werden (meine Vorstellung von mir abbauen).
„Unsere tiefgreifendste Angst ist nicht, dass wir ungenügend sind. Unsere tiefste Angst ist, über das Messbare hinaus kraftvoll zu sein. Es ist unser Licht, das uns erschreckt, nicht unsere Dunkelheit. Es ist nichts Erleuchtendes daran, sich so klein zu machen, dass andere um uns herum sich nicht sicher fühlen. Wir sind alle bestimmt zu leuchten, wie es die Kinder tun. Und wenn wir unser eigenes Licht erscheinen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun. Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind,