Warning: Undefined variable $open_graphite_head in /home/.sites/587/site434/web/wp-content/plugins/open-graphite/_open_graphite.php on line 619 Allgemein – Seite 13 – Säkularer Buddhismus

Glaub nicht alles, was du denkst
„The Work“ von Byron Katie und meine Probleme damit

byron katieEine aufmerksame Leserin hat uns darauf hingewiesen, dass dieser prägnante Satz, der David Loy so gut gefällt, von Byron Katie stammt. Das war mir Grund genug, über sie und ihre Arbeit zu recherchieren. Auf der Website http://thework.com/sites/thework/deutsch gibt es u.a. eine Einführung über ihre Person, Details zu ihrer Arbeitsweise und viele begleitende Materialien1. Byron Katie ist eine US-Amerikanerin, die nach langjährigen schweren persönlichen Krisen mit Depressionen, Süchten und Panikattacken eine Art Erweckungserlebnis hatte, wie sie berichtet. Dies habe ihr Leben mit einem Schlag von Grund auf verändert und sie zu einem glücklichen, ausgeglichenen Menschen gemacht. Sie entwickelte eine Technik von vier Fragen und „Umkehrungen“ der Antworten, mit denen sie seither arbeitet und die sie vielen Menschen in Büchern, Videos und Workshops nahegebracht hat2. Byron Katie schlägt vor, schmerzhafte, ärgerliche, belastende Erfahrungen in einem meditativen Prozess gedanklich genau zu überprüfen. Dabei geht es in den ersten beiden Fragen darum, ob sie „wahr“ seien, die dritte und vierte sollen deutlich machen, wie sehr die Gedanken darüber den Fragenden belasten. Indem schließlich Aussagen wie „Mein Mann sollte mir besser zuhören“ „umgekehrt“ werden (zum Beispiel in: „Ich sollte ihm besser zuhören“), soll die Aufmerksamkeit darauf gerichtet werden, wie eigene oft unbewusste Verhaltensweisen mit denen korrespondieren, die einen an anderen besonders stören: je schlechter ich selber zuhören kann, desto eher wird mich das an anderen Menschen nerven. Der Gedanke, „Glaubenssätze“ über sich und andere Menschen in Frage zu stellen und die Aufmerksamkeit auf die Schattenseiten des eigenen Selbstbilds zu richten, hat mich angesprochen. Ich sah eine Verbindung zu den Überlegungen über das „Selbst“, um die es auf diesem Blog seit einer Weile geht und erinnerte mich an Buddhas Bild, wie Ungeübte zwei Pfeile spüren: der erste verursacht den Schmerz einer echten Verletzung, mit dem zweiten sind die Sorgen und Ängste gemeint, die wir danach in uns nähren. Ich habe vieles von Byrons Website gelesen, mir Videos angesehen und ihre Technik selber und mit anderen ausprobiert. Da gibt es einiges, was mich anzieht: ihre Aussagen darüber, wie Schmerz uns zum Nachdenken führen kann; wie wir die tief verwurzelte Gewohnheit, uns selbst und andere zu bewerten, als Ausgangspunkt für Selbsterforschung nutzen können, die oft wiederholte Aufforderung, unsere Gedanken an der Realität zu überprüfen und eine skeptische innere Haltung, die in dem prägnanten Satz gipfelt: glaub nicht alles, was du denkst. Im Selbstversuch habe ich mit den „Umkehrungen“ einiges anfangen können; sie richteten meine Aufmerksamkeit darauf, wie mich an anderen oft am meisten stört, was mir selber schwerfällt. Von Beginn an aber fand ich die Ausgangsfrage und Byrons Umgang damit falsch gestellt. Ein Beispiel: Nach der Aussage: „XY hat mich verletzt“ führt die Frage „Ist das wahr?“ in ein Dickicht von weiteren Fragen über Wesen und Urheberschaft von „Wahrheit“. Die Frage „Entspricht das der Realität?“ wäre vielleicht sinnvoller, weil durch sie unterschiedliche Sichtweisen deutlicher werden könnten. Eine Dharma-Freundin, mit der ich „The Work“ übte, stellte fest, dass die Voraussetzung für den Prozess, nämlich Byrons unhinterfragtes Vorverständnis von „Wahrheit“, einem offenen, skeptischen Zugang widerspreche. Jedenfalls sind „Glaubenssätze“, die auf diese Weise identifiziert werden, nicht „Lügen“, wie Byron sagt und schreibt, sondern höchstens Irrtümer oder Verzerrungen. An dieser Stelle wird es gefährlich, scheint mir, weil der Bewertung, die in Frage gestellt werden soll, durch das Etikett „Lüge“ gleich wieder Tür und Tor geöffnet wird, jetzt auf die eigene Person bezogen. Meine Vorbehalte wuchsen mit der Frage: wo hat sie das her? Auch Byron muß in einer Tradition stehen, die sie aber verschweigt. Ihrer Erklärung vom Erweckungserlebnis als einziger Quelle mag ich nicht folgen. Bei aller Vorliebe für handlungsorientierte Ethik, hier fehlt mir die Theorie, aus der auch sie geschöpft hat – dazu später mehr. Nun können spontane tiefe Einsichten sicher wichtige Anstöße geben; mich stört aber die Ausschließlichkeit und Unbedingtheit von Byrons Anspruch ihren Klientinnen gegenüber sehr: Ein Arbeitsblatt wird dein Leben für immer verändern? Byron Katie ist weltweit bekannt – Google zählt 3 250 000 Treffer. Sie hat sehr viele Anhänger, von denen ihr ein großer Teil enthusiastisch folgt. Auf zahlreichen Videos kann man ihr bei der Arbeit – auch vor Publikum – zusehen. Mir scheint, dass sie im Gespräch den Eindruck zu erwecken versucht, durchaus einfühlsam auf Klientinnen einzugehen, aber recht bedingungslos Richtung und Tempo des Gesprächs vorgibt. Da bleibt nicht viel Raum für eigene Reflexion über das Wesen des jeweiligen Problems und vor allem nicht über seine Veränderbarkeit. Byron hat nicht wenige scharfe Kritiker. Ein ausführliches, kluges Statement auf deutsch mit anschließender kontroversieller Diskussion gibt es unter: https://emj57.wordpress.com/2009/07/21/warum-ich-the-work-von-katyie-byron-nicht-mag/. Darin heißt es:

Durch die vier Fragen erfolgt sofort eine Ablenkung vom betreffenden Glaubenssatz. Durch die Umkehrungen führt der Weg noch weiter weg. Ich werde praktisch gezwungen, mir andere Gedanken samt den dazu gehörigen Gefühlen vorzustellen. Da zwei Gefühle nicht zugleich auftreten können und volle Konzentration auf die jeweils neuen Gedanken verlangt wird, tritt der erste Gedanke in den Hintergrund und wird von den nachfolgenden überlagert. Ich bezweifle zutiefst, dass das Ursprungsproblem damit gelöst ist! Für den Augenblick mag es durchaus so scheinen, weil man sich auf andere Gedanken völlig konzentriert. Diese neuen Gedanken sind spannend und anregend und beanspruchen die Aufmerksamkeit. Sie erzeugen andere Gefühle als die ursprünglichen. Es ist ein Ablenkungsmanöver. An sich ist die Aussage, man solle sich niemals gegen die Realität stellen, in bestimmten Situationen eine Binsenweisheit. Wer mit dem Kopf durch die Wand will, wird sich eine Beule holen, ganz egal, wie oft er es versucht. Was aber fehlt, ist die ganz wichtige Frage: Ist diese Realität veränderbar oder nicht? Das halte ich für die zentrale Frage überhaupt.

Eine differenzierte Kritik in englischer Sprache liest man auf der Website von Morten Tolboll: http://mortentolboll.weebly.com/a-critique-of-byron-katie-and-her-therapeutic-technique-the-work.html. Hier gibt es auch Erfahrungsberichte von Menschen, die sich auf längere Schulungen bei Byron eingelassen haben. Dabei hat sich bei mir der Eindruck einer deutlichen Tendenz zu Manipulation verstärkt. Eine Analyse, die auch positive Aspekte von „The Work“ würdigt, findet sich unter: http://www.new-synapse.com/aps/wordpress/?p=315 (ebenfalls in englischer Sprache). Die Autorin weist unter anderem darauf hin, dass die Technik sich – wie es bei Methoden von Gurus üblich sei – gezielt jedem wissenschaftlichen Zugang verschließe, und dass Byron auf eine mögliche Verschlechterung von Problemen bei traumatisierten oder psychisch kranken Menschen weder vorbereite noch Rücksicht nehme. Byron sagt „The Work“ sei eine Technik, keine Therapie. Sie hat auch keine einschlägige Ausbildung durchlaufen. Ihr Ehemann spricht davon , dass sie keine Vorbilder gehabt habe und nur von ihrem „Erweckungserlebnis“ geformt und motiviert worden sei. Als Beleg dafür führt er an, sie lese keine Bücher3. An dieser Stelle war ich der Meinung, nun genug Informationen über Byron Katie gesammelt zu haben. Eines noch: „The Work“ ist ein ausgezeichnetes Geschäft. Zwar sind die Übungsblätter und Anfangsinformationen im Netz kostenlos zugänglich, aber Byrons Bücher haben enorm hohe Auflagen und die teuren Workshops, die sie regelmäßig mit Gruppen von mehreren hundert Personen hält, sind laufend ausgebucht.

  1. Dort sind auch ihre Bücher angeführt; das bekannteste heißt: Lieben, was ist; außerdem kann in zahlreichen You-Tube-Videos (in englischer Sprache) ihre Arbeit mit Klientinnen und Klienten beobachtet werden
  2. Die vier Fragen und Anleitungen für die „Umkehrungen“ finden sich auf der oben genannten Website unter: http://thework.com/sites/thework/deutsch/downloads/Arbeitsblatt_UrteileUberDeinenNachsten.pdf und http://thework.com/sites/thework/deutsch/downloads/Arbeitsblatt_UntersucheEineUberzeugung.pdf
  3. nachzulesen ist das auf der oben zitierten Website von Morten Tolboll. Dort gibt es auch den Hinweis auf den US-amerikanischen Persönlichkeitstrainer Ken Keyes, von dem vieles in Byrons Texten wörtlich oder sinngemäß übernommen ist

An sich selbst

Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,

Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,

Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,

Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.

Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,

Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.

Tu, was getan muß sein, eh man es dir gebeut.

Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.

Was klagt, was lobt man doch?

Sein Unglück und sein Glücke

Ist sich ein jeder selbst.

Schau alle Sachen an : Dies alles ist in dir.

Laß deinen eitlen Wahn,

Und eh du vorwärts gehst,

so geh in dich zurücke.

Wer sein selbst Meister ist

und sich beherrschen kann,

Dem ist die weite Welt und alles untertan.

paul_fleming

Paul Fleming

deutscher Dichter und Arzt im 17. Jh.

Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 1. Teil
von Victor von der Heyde

strichmännchen1„Glaub nicht alles, was du denkst“, schreibt David Loy in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag. Ohne die Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns selbst und die Welt erzählen, können wir nicht leben. 1 Es könnte aber hilfreich sein, wenn wir uns bewusst machen, dass alle Narrative Konstrukte sind, die auch umgebaut, anders beleuchtet, aus ungewohnten Blickwinkeln gesehen werden können. Unsere Geschichten und die Art, wie wir sie erzählen, können Dukkha in unserem Leben steigern oder verringern. Darüber spricht der australische Dharmalehrer Victor von der Heyde in dieser Rede 2:

Ein Element unserer Praxis ist, dass wir lernen können, Situationen und uns selbst anders als bisher zu sehen. Manchmal sind wir einfach festgefahren und sehen uns automatisch auf eine bestimmte Weise. Wir könnten uns doch einmal unseren eigenen Gefühlen und Reaktionen bewusst und einfühlsam zuwenden. Vielleicht kennt jemand von euch die folgende Geschichte von Shantideva, dem Mahayana-Lehrer aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Er sagte: Wenn du einen Grobian siehst, der einen Mann mit einem Stock prügelt, wem weist du Schuld zu? Dem Stock? Wahrscheinlich nicht, denn es gibt etwas, was den Stock antreibt. Beschuldigst du den Arm? Nein, denn es gibt etwas, was den Arm antreibt. Nennst du die Person schuldig? Nun, die Person hat viele Eigenschaften – wie wäre es, der Wut, die die Person und den Arm antreibt, die Schuld zu geben? Das ist eine neue Sichtweise. So beurteilt man nicht einen ganzen Menschen, sondern eine Eigenschaft, die man dabei bewusst getrennt von der „Persönlichkeit“ betrachtet. In unserer Praxis können wir uns die Idee von unserem „Selbst“ genauer ansehen: was schreiben wir unserem Ich zu, wie definieren wir uns? Das ist manchmal recht vage und nicht sehr bewusst, wir haben nur eine ungefähre Vorstellung und schauen uns das nicht so genau an. Das kann aber hilfreich sein, denn wie wir uns selber sehen, hat oft Auswirkungen darauf, was wir sonst noch wahrnehmen können. Ich gebe euch ein paar Beispiele:

Victor-sm

Ihr kennt den Begriff der ökologischen Schulden. Wenn du mehr als deinen fairen Anteil der begrenzten natürlichen Ressourcen verbrauchst, häufst du ein ökologisches Schuldenkonto an. Die meisten von uns tun das durch ihren Lebensstil. In einer Studie des Londoner Instituts für Psychoanalyse wurde festgestellt, dass Menschen sich damit nicht näher beschäftigen wollen, weil das ihr Selbstbild, sozial verantwortungsbewusst zu sein, in Frage stellen würde. Das wäre ein Beispiel dafür, wie eine bestimmte Sichtweise auf dich selbst deine Aufnahmefähigkeit beeinflusst. Ein anderes Beispiel wäre die Art, wie viele depressive Menschen die Welt und das, was ihnen widerfährt, wahrnehmen. Auch wenn ihnen recht positive Dinge geschehen, können sie dies nicht zur Kenntnis nehmen. Auch hier werden durch bestimmte Vorstellungen von sich selbst die Möglichkeiten beschränkt, etwas anzunehmen und zu integrieren. Noch ein Beispiel: ich kenne einen Mann, der an weit fortgeschrittenem Krebs erkrankt ist. Für lange Zeit konnte er – wie es oft vorkommt – nicht zur Kenntnis nehmen, dass er sterben wird. Er hat ein Bild von sich als einem Mann, der sich Herausforderungen stellt und entsprechend handelt. Der Gedanke an den eigenen Tod wurde durch dieses Selbstbild blockiert und der Mann brauchte lange, bis er sich der nahenden Realität stellen konnte. Es ist nicht so einfach, ein genaueres Bild von sich selbst zu entwickeln. Wir nehmen es einfach als einen Teil unseres Lebens und kümmern uns nicht weiter darum. Dazu kommt: manches an unserem Selbstbild hängt mit dem zusammen, was in unserer Gesellschaft oder Subkultur üblich ist. Bei uns wird viel Wert darauf gelegt, angenehm und gepflegt zu wohnen – es kann sich auf dein Selbstbild auswirken, wenn du nicht in einem solchen Heim lebst. Oder: in unserer Gesellschaft werden Paarbeziehungen sehr wichtig genommen – wenn du andere Akzente setzt, etwa auf die Natur oder die Gemeinschaft, kann dein Selbstbild davon beeinflusst werden, dass für viele Menschen in deiner Umgebung Zweier-Partnerschaften unabdingbar sind, damit sie sich als glückliche oder erfolgreiche Person sehen können. Die Frage wäre also: wie bekommen wir ein Gefühl für unser Bild von uns selbst? Der erste Schritt könnte sein, es stärker in unser Bewusstsein zu heben, und zwar eher durch Formen von Kontemplation als durch meditative Praxis im engeren Sinn.

Im nächsten Teil dieser Übersetzung, der demnächst folgt, gibt Victor ein paar konkrete Vorschläge, wie wir lernen können, unser Selbstbild deutlicher werden zu lassen und es zu beeinflussen.

  1. Stephen Batchelor stellt seinen „Confessions of a Buddhist Atheist“ ein Zitat des deutschen Filmemachers Wim Wenders voran: „Stories are impossible, but it’s impossible to live without them. That’s the mess I’m in“.
  2. Näheres über von der Heyde und die Originalaufnahme mit dem Titel: „Honouring our empty Selves“ unter: www.dharma.org.au/v/ . Mit Zustimmung des Autors leicht gekürzte Übersetzung von Evamaria Glatz

Die Welt besteht aus Geschichten
von David Loy

StoriesWenn wir glauben, dass wir religiöse Mythen hinter uns gelassen haben, erliegen wir dem Irrtum, diese neueste Version von Kulturgeschichte würde die Welt in sich fassen. 1

Die amerikanische Dichterin Muriel Rukeyser prägte den berühmten Satz: „Das Universum besteht aus Geschichten, nicht aus Atomen“. Wir sind nicht nur Tiere, die Sprache gebrauchen, wir sind Lebewesen, die Geschichten erzählen, denn das ist in allen Kulturen eine elementare menschliche Aktivität. Geschichten sind mehr als nur Geschichten. Mit unseren Geschichten geben wir der Welt Sinn. Es ist nicht so, dass wir die Welt erfahren und uns danach Geschichten ausdenken, um sie zu verstehen. Geschichten lehren uns, was real, was wahr und was möglich ist. Sie sind nicht Abstraktionen vom Leben (obwohl sie das auch sein können); sie sind notwendig, damit das Leben für uns verbindlich wird. Wir machen uns nicht bewusst, dass unsere Geschichten Geschichten sind und nehmen sie üblicherweise wahr, als wären sie die Welt. Wie Fische, die das Wasser nicht sehen, in dem sie schwimmen, nehmen wir normalerweise das Medium, in dem wir schwimmen, nicht zur Kenntnis. Wir halten es für selbstverständlich, dass die Welt, wie wir sie erfahren, mit dem Wesen der Dinge identisch ist. Aber genauso wie die Geschichten, deren Teil sie sind, beeinflussen unsere Konzepte und Ideen über die Welt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit stark. In der buddhistischen Praxis lernt man früh und immer wieder die Wahrheit auf meinem Lieblingssticker: „Glaub nicht alles, was du denkst“. Diese Erkenntnis mag zu dem Wunsch führen, alle Beschreibungen der Welt abzulehnen und zur Wirklichkeit, die hinter ihnen liegt „zurückzukehren“, zu den nackten Fakten der Erfahrung. Aber auch das bedeutet, eine Geschichte zu inszenieren, die Geschichte über das Loslassen von Geschichten. Es geht hier darum, nicht zu leugnen, dass es eine Welt unabhängig von unseren Geschichten gibt, sondern sich klarzumachen, dass wir Menschen die Welt durch das Geschichtenerzählen verstehen. Im Gegensatz zu dem erwähnten Fisch können wir jedenfalls das Wasser wechseln, in dem wir schwimmen. Unsere Beziehung zu Geschichten kann verändert werden. Geschichten sind Konstrukte, die re-konstruiert werden können, aber sie sind nicht freischwebend. Mit anderen Worten: wir sind Mit-Schöpfer der Welt, in der wir leben. Wir brauchen Geschichten, die den Klimawandel erklären und uns befähigen, über ihn zu sprechen. Wir können die Erderwärmung nicht einfach von den Geschichten darüber trennen – auch wenn einige Erdölkonzerne das versucht haben. Gemäß bestimmter Arten von Geschichten zu leben, führt zu Steigerung von Leiden, und gemäß anderer Geschichten zu leben, kann Leiden verringern. Die zentrale Figur in der grundlegenden Geschichte, zu der wir immer und immer wieder zurückkehren ist das „Selbst“, das „Ich“ für individuell und wirklich halte, das aber in Wirklichkeit aus den Geschichten zusammengesetzt ist, mit denen ich mich identifiziere und nach denen ich zu leben versuche. Geschichten geben meinem Leben die Handlung, die ihm Bedeutung verleiht. Seine Geschichten auszuleben hat Konsequenzen, ein Prozess, der im Buddhismus „Karma“ genannt wird. Aus dieser Perspektive ist Karma nicht etwas, was das Selbst „hat“, sondern das, was zur Empfindung von Selbst wird, während es sich in seinen Rollen verwurzelt. Gewohnheitsmäßige Tendenzen verdichten sich zum Charakter eines Menschen – und das endet damit, dass man ohne Seil gebunden ist. Unser Problem liegt nicht bei den Geschichten selbst sondern darin, wie wir uns mit ihnen identifizieren. Eine Bedeutung von Freiheit ist: die Möglichkeit, die Geschichte zu leben, mit der man sich identifiziert. Eine andere Art von Freiheit ist die Fähigkeit, Geschichten und meine Rolle in ihnen zu wechseln: ich bewege mich vom Charakter, der im Drehbuch festgeschrieben ist, zum Koautor meines eigenen Lebens. Eine dritte Art von Freiheit ergibt sich daraus, verstehen zu lernen, wie Geschichten meine Möglichkeiten erzeugen und beschränken. Der englische Kognitionswissenschafter Guy Claxton nennt das Bewusstsein „…einen Mechanismus zur Herstellung zweifelhafter Geschichten mit dem Zweck, eine überflüssige und ungenaue Empfindung von Selbst zu verteidigen“. Die Haupthandlung solcher Geschichten kreist meist um Furcht und Angst, denn die Hauptfigur „Ich“ kann nie die erwünschte Stabilität und Autarkie erreichen. Solche Narrative versuchen ein Ego abzusichern und zu vergrößern, das sich als vom Rest der Welt getrennt erlebt. Diese Bemühungen haben einen Bumerang-Effekt, denn – wie im Buddhismus hervorgehoben wird: ein solches getrenntes Ich ist Illusion. Zum Erwachen gehört die Erkenntnis, dass meine Geschichte Teil einer viel umfassendere Geschichte ist, die auch die Geschichten anderer Menschen umfasst. Unsere Geschichten haben keine scharfen Ränder, sie hängen miteinander zusammen. Im Aufwachsen akzeptiere ich manche der Geschichten, die die Gesellschaft anbietet und ich bestätige sie durch mein Handeln. Geschichten lehren mich, was es heißt, Bub oder Mädchen zu sein, Amerikaner oder Chinese, Christ oder Buddhist, und wie, in welcher Form und wie weit Erziehung, Religion, Geld usw. wichtig sind. Die Geschichten, die dieser Welt Sinn verleihen, sind Teil dieser Welt. Verändert werden wir nicht, indem wir diese Welt transzendieren, sondern indem wir Geschichten auf neuartige Weise erzählen. Was Religion betrifft, bedeutet das: wir verändern die Metaphern, nach denen wir leben. Religiöse Metaphern und Symbole buchstäblich zu verstehen, geht meist am Kern der Sache vorbei. Die metaphorische Natur religiöser Sprache bedeutet, dass ihre Behauptungen nicht bestätigt werden können. Mythen – wie Metaphern im allgemeinen – vermeiden dieses Problem, da ihre Bedeutung woanders liegt. Zu religiösen Lehren gehören wie zu anderen Ideologien behauptete Aussagen, die man akzeptieren oder ablehnen kann. Mythen bieten Geschichten zum Interagieren. Den buddhistischen Mythos über Siddhartas schicksalhaftes Zusammentreffen mit einem alten Mann, einem Kranken, einem Leichnam und einBuddha trifft auf Alter, Krankeit und Todem Asketen kann man als historisches Faktum verstehen, als eine bildhafte Art der Darstellung, warum Siddharta sein Zuhause verließ, oder als ein Stilmittel, das mit dem tatsächlichen Leben des Buddha vielleicht nichts zu tun hat. Jedenfalls ist der Mythos eine wirkungsvolle Art, seine Lehre zu untermalen. Wenn man ihn als symbolisch versteht, ist diese Mehrdeutigkeit kein Problem – Mythen wirken so; das ist keine Frage von buchstäblicher Wahrheit oder Falschheit. Eine bessere Methode, einen Mythos – eine symbolische Geschichte – einzuschätzen, wäre, zu überlegen, was geschieht, wenn wir ihm gemäß leben. Das wichtigste Kriterium für den Buddhismus liegt darin, ob eine Geschichte das Erwachen fördert. Ein Mythos, der für mich interpretiert worden ist, muss erst noch durch mich interpretiert werden – durch das, was ich aus ihm mache und was er mit mir macht. Eine Geschichte über das Leiden durch Alter, Krankheit und Tod steht quer zu den Geschichten, mit denen wir unsere Sterblichkeit zu ignorieren versuchen: die Bedeutung von Geld, Besitztümern, Ruhm und Macht. Die Sorgen um diese Güter loszulassen eröffnet andere Möglichkeiten, und vielleicht eine andere Beziehung zu Geschichten. Mythen sind nicht einfach schlechte Geschichten, die durch rationale und wissenschaftliche Darstellungen, die die empirische Welt besser erfassen, ersetzt werden müssen. Aus der Perspektive von Geschichten ist einer der gefährlichsten Mythen der von einem Leben ohne Mythen, die Geschichte von einem Realisten, der sich von all dem Unsinn befreit hat. Die Idee, Wissenschaft und systematische Vernunft könnten uns von der angeblichen Unvernunft von Mythen befreien, ist heutzutage eine besonders beliebte Fiktion. Geschichten haben sowohl soziale als auch individuelle Funktionen. Manche Geschichten rechtfertigen zum Beispiel soziale Unterschiede. Mittelalterliche Könige herrschten durch göttliches Recht. Ein indischer Mythos über die verschiedenen Teile des kosmischen Körpers rationalisiert das Kastensystem der Hindus. Wir stellen ein soziales Arrangement in Frage, in dem wir die Geschichte bezweifeln, die sie bestätigt.  Wenn Menschen aufhören, an die Geschichten zu glauben, die die soziale Ordnung rechtfertigen, beginnt der Wandel. Als das Volk Frankreichs das göttliche Recht seines Königs nicht mehr akzeptierte, folgte die Französische Revolution. Eine der vorherrschenden Geschichten unserer Tage ist: wir leben in einer Welt, die von unpersönlichen physischen Gesetzen beherrscht wird, die uns und unserem Schicksal indifferent gegenüberstehen. Menschenwesen haben keine Funktion im gewaltigen Entwurf der Dinge. Wir haben keine entscheidende Rolle zu spielen, außer vielleicht unser Leben zu genießen, so sehr wir können und so lange wir können – wenn uns das möglich ist. Diese Geschichte von einem Universum, das sich ausschließlich auf physische Gesetze und Prozesse reduzieren läßt, wird auch im Sozialen angewendet. Der Gedanke von Entwicklung durch natürliche Selektion hat untergraben, was von der alten religiösen Geschichte des Westens übriggeblieben war: Zur Erklärung der Schöpfung wird Gott nicht mehr benötigt. on the origin of speciesBald nachdem Charles Darwin „The Origin of Species“ veröffentlicht hatte, wurde seine Theorie verwendet, um die Entwicklung eines neuen Typs industrieller Ökonomie zu rechtfertigen. Herbert Spencer prägte den Begriff: „survival of the fittest“ und wandte ihn auf die menschliche Gesellschaft an. Du musst über den Kerl, der dir auf dem Weg nach oben der nächste ist, drübersteigen oder er wird über dich steigen. Wert und Bedeutung von Leben wurden weitgehend aus der Sicht von Überleben und Erfolg verstanden, die Maßzahl dafür war hauptsächlich Geld, nicht Fruchtbarkeit. Laut dieser Geschichte geht es im Leben darum, was du kriegen und womit du durchkommen kannst, bis du stirbst. Du bist entweder ein Gewinner oder ein Verlierer, und wenn du nicht erfolgreich bist, gib niemand anderem die Schuld. Es war kein Zufall, dass Spencers Geschichte vom Sozialdarwinismus die Mächtigsten am meisten ansprach. Industriebonzen wie Andrew Carnegie und John D. Rockefeller begrüßten seine Philosophie. Offensichtlich blüht und gedeiht die Hauptaussage des Sozialdarwinismus – dass man seine eigenen wirtschaftlichen Interessen auch auf die Kosten des Wohlbefindens anderer verfolgen soll – noch immer. Aus buddhistischer Perspektive scheint es ebenso offenkundig, dass diese Geschichte das Abstoßende ihrer Motive leugnet, vor allem der „drei Gifte“ Gier, Hass und Ichsucht. Der verblendete Glaube, dass ein Mensch vom anderen getrennt sei, gestattet es, seine eigenen Interessen unabhängig davon zu verfolgen, was diesem anderen geschieht. Soziologen haben darauf hingewiesen, dass eine Anwendung des Darwinismus auf soziale Zustände unpersönliche biologische Vorgänge mit menschlichen Einrichtungen, die reformierbar sind, vermischt. Aber wenn genügend Leute diese Geschichte glauben und dementsprechend handeln, wird sie zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Dann konstruieren wir die soziale Welt nach diesen Prinzipien und die Gesellschaft wird tatsächlich in eine Art von darwinistischem Dschungel verwandelt. Während ich das schreibe, wird in einem neuen Oxfam Bericht 2 festgestellt, dass im Jahr 2014 das reichste Prozent der Weltbevölkerung 48 Prozent des Reichtums der Welt zu eigen hatte, während die 80 Prozent am unteren Ende der Reichtumsskala etwa 5 Prozent besaß. Wenn das mit grundlegenden sozioökonomischen Gesetzen in Übereinstimmung stünde, würden wir eine solche Entwicklung ablehnen und irgendwie versuchen, sie zu hemmen, müssten uns aber nicht prinzipiell an derart große Mißverhältnisse anpassen. Die sozialdarwinistische Geschichte trägt also dazu bei, eine solche Ungleichheit zu „normalisieren“ und legt nahe, sie zu akzeptieren. Es gibt aber Alternativen. Statt eine solche Geschichte zu akzeptieren, die nur dazu dient, den wachsenden Reichtum und die steigende Macht einer privilegierten Elite zu rationalisieren, können wir nach besseren Geschichten Ausschau halten, besser, weil ein ihnen gemäßes Leben soziales Dukkha verringern würde. Sowohl kollektiv als auch persönlich können unsere Geschichten geändert werden, und in diesem Fall müssen sie sich ändern, damit wir auf die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, besser reagieren können. Im pluralistischen Klima unserer Gegenwart können wir die grundlegenden religiösen und säkularen Narrative, die uns in der Vergangenheit gedient haben, nicht länger in gleicher Weise verstehen. Wir können uns in einen beschränkten Rahmen zurückziehen, in dem nur eine einzige Weltsicht gilt, oder wir können die Vielfalt von Geschichten und Perspektiven im Geist spielerischen Nicht-Anhaftens annehmen.

  1. „The World is made of Stories“ von David Loy wurde im Sommer 2015 im buddhistischen Magazin „Tricycle“ veröffentlicht und mit Zustimmung des Autors für unsere Website übersetzt
  2. Oxfam ist eine internationale Entwicklungsorganisation, E.G.

Buddha über das Denken

Aus der Dvedhavitakka Sutta 1

buddha

Ihr Bhikkhus, vor meinem Erwachen, als ich noch lediglich ein unerleuchteter Bodhisattva war, kam mir in den Sinn: angenommen, ich teile meine Gedanken in zwei Klassen ein. Auf die eine Seite brachte ich dann Gedanken der Sinnesbegierde, Gedanken des Übelwollens und Gedanken der Grausamkeit und auf die andere Seite brachte ich Gedanken der Entsagung, Gedanken des Wohlwollens und Gedanken der Freundlichkeit.
Während ich so umsichtig, eifrig und entschlossen verweilte, erschienen Gedanken der Sinnesbegierde, des Übelwollens, der Grausamkeit in mir. Ich verstand: Dieser Gedanke der Sinnesbegierde, des Übelwollens, der Grausamkeit ist in mir entstanden. Dies führt zu meinem eigenen Leid, zum Leid anderer und zum Leid aller Beteiligten; es beeinträchtigt Weisheit, verursacht Schwierigkeiten und führt vom Erwachen weg. Als ich erwog: Dies führt zu meinem eigenen Leid, verschwand es; als ich erwog: Dies führt zum Leid anderer, verschwand es; als ich erwog: Dies führt zum Leid aller Beteiligten, verschwand es; als ich erwog: Dies beeinträchtigt Weisheit, verursacht Schwierigkeiten, und führt vom Erwachen weg, verschwand es. Wann immer ein Gedanke der Sinnesbegierde, des Übelwollens, der Grausamkeit in mir erschien, gab ich ihn auf, entfernte ihn, beseitigte ihn.
So wie im letzten Monat der Regenzeit, im Herbst, wenn das Korn heranreift, ein Kuhhirte seine Kühe hüten würde, indem er sie ständig mit einem Stock auf die eine und die andere Seite klopft und stupst, um sie zu zügeln und im Zaum zu halten…
Während ich so umsichtig, eifrig und entschlossen weilte, erschienen Gedanken der Entsagung, des Wohlwollens, der Freundlichkeit in mir. Ich verstand: Dieser Gedanke der Entsagung, des Wohlwollens, der Freundlichkeit ist in mir entstanden. Dies führt nicht zu meinem eigenen Leid, oder zum Leid anderer oder zum Leid aller Beteiligten; es fördert Weisheit, verursacht keine Schwierigkeiten, und führt zum Erwachen hin. Wenn ich über diesen Gedanken nachdenke und nachsinne, und sei es sogar eine Nacht lang, sogar einen Tag lang, sogar eine Nacht und einen Tag lang, sehe ich nichts, was davon zu befürchten wäre. Aber mit übermäßigem Nachdenken und Nachsinnen könnte ich meinen Körper ermüden, und wenn der Körper ermüdet ist, wird der Geist überanstrengt, und wenn der Geist überanstrengt ist, ist er von Konzentration weit entfernt. Also festigte ich meinen Geist innerlich, beruhigte ihn, brachte ihn zur Einheit und konzentrierte ihn. Warum? Weil mein Geist nicht überanstrengt werden sollte.
Ihr Bhikkhus, worüber auch immer ein Bhikkhu häufig nachdenkt und nachsinnt, das wird seine Geistesneigung werden. Wenn er häufig über Gedanken der Entsagung nachdenkt und nachsinnt, hat er den Gedanken der Sinnesbegierde aufgegeben, um den Gedanken der Entsagung zu pflegen, und dann neigt sein Geist zu Gedanken der Entsagung. Wenn er häufig über Gedanken des Wohlwollens nachdenkt und nachsinnt, hat er den Gedanken des Übelwollens aufgegeben, um den Gedanken des Wohlwollens zu pflegen, und dann neigt sein Geist zu Gedanken des Wohlwollens. Wenn er häufig über Gedanken der Freundlichkeit nachdenkt und nachsinnt, hat er den Gedanken der Grausamkeit aufgegeben, um den Gedanken der Freundlichkeit zu pflegen, und dann neigt sein Geist zu Gedanken der Freundlichkeit. So wie im letzten Monat der heißen Jahreszeit, wenn alles Korn in die Dörfer eingebracht worden ist, ein Kuhhirte seine Kühe hüten würde, während er sich am Fuß eines Baums oder im freien Gelände aufhält, da er nur darauf zu achten braucht, dass die Kühe anwesend sind; genauso bestand für mich nur die Notwendigkeit, achtsam darauf zu sein, dass jene Geisteszustände anwesend waren.

So können wir Einfluss nehmen auf die Gedanken – aus denen wir Geschichten über uns selbst und unseren Ort in der Welt bauen – sagt Siddharta Gautama. Ähnlich wie im Vergleich mit kundiger Handwerksarbeit, den Stephen Batchelor zitiert 2 spricht der Buddha von der gewöhnlichen Tätigkeit eines Hirten. Dabei ist mir der Unterschied zwischen den beiden Metaphern aufgefallen, die er gebraucht. Im ersten Bild ist der Hirte dauernd beschäftigt, seine Kühe im Zaum zu halten, weil rund um sie das reifende Korn steht; wenn das einmal entfernt ist, braucht er viel weniger Energie und ist freier geworden für anderes.

  1. Palikanon, Majjhima Nikaya 19, 1. Teil. Der 2. Teil, auf den ich in einem späteren Beitrag eingehen möchte, behandelt die Jhanas, Zustände besonderer Versenkung jenseits von hilfreichen und schädlichen Gedanken. Von mir gekürzte deutsche Übersetzung, zitiert von: http://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m019z.html, E .G.
  2. s. sein Beitrag auf diesem Blog über das Selbst

Was uns glücklich macht
Gedanken von Erich Fromm

Dinge können alles mögliche hervorbringen, doch sie können nicht lieben, weder einen Menschen, noch das Leben. Heute glauben die Menschen, man könne überhaupt nichts genießen, was man nicht kaufen muss. Die Wünsche des Konsumenten werden durch den Produzenten erzeugt. Der Käufer hat nur das zweifelhafte Privileg, zwischen verschiedenen miteinander konkurrierenden Produkten zu wählen. Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe? Der Frage, wer man eigentlich ist, versucht man auszuweichen. Man setzt sich ins Auto und fährt davon.

haben oder sein

Liebe ist etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt. Die meisten Menschen glauben, Liebe komme erst durch ein Objekt zustande und nicht auf grund einer Fähigkeit. Es gibt nichts Anziehenderes als einen Menschen, der liebt, und dem man anmerkt, dass er nicht irgendetwas oder irgendwen, sondern das Leben liebt. Liebe ist die Erfahrung des Teilens; der Gemeinschaft, die die volle Erfahrung des eigenen Tätigseins erlaubt. Wer sich entschließt, ein Problem mit Liebe zu lösen, braucht den Mut, Enttäuschung auszuhalten und trotz Rückschlägen geduldig zu bleiben. Ohne Anstrengung und ohne Bereitschaft, Schmerz und Angst zu durchleben, kann niemand wachsen. Solange jemand glaubt, sein Ideal und sein Daseinszweck liege außerhalb seiner selbst, sei es über den Wolken, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, lebt er außerhalb seiner selbst. An jedem Punkt seines Lebens ist der Mensch noch nicht das, was er sein kann und was er möglicherweise werden wird. Die wichtigste Lebensaufgabe des Menschen besteht darin, sich selbst zur Geburt zu verhelfen und das zu werden, was er potentiell ist. Glücklichsein heißt Fülle erleben und nicht Leere, die gefüllt werden muss. Glücklichsein besteht darin, dass wir den Felsgrund der Realität berühren, dass wir unser Selbst entdecken und uns mit anderen eins und gleichzeitig von ihnen unterschieden fühlen. Glücklich zu sein ist nicht das Wichtigste im Leben, sondern lebendig zu sein. Freude ist das Ergebnis intensiven Lebens. Das Leben ist das Meisterstück eines jeden Menschen.

Den deutsch-amerikanischen Philosophen und Psychologen Erich Fromm, über den es auf diesem Blog einen früheren Beitrag gibt, möchte ich mit diesen Zitaten aus seinen Texten in Erinnerung rufen.

Geschichten sind unmöglich, doch ohne Geschichten können wir unmöglich leben

Diesem Satz fügt der deutsch-amerikanische Filmregisseur Wim Wenders noch hinzu: Da haben wir den Salat. Unter diesem Motto beginnt Stephen Batchelor seine autobiographische Geschichte „Bekenntnisse eines ungläubigen Buddhisten“. Mit Geschichten über uns selbst und andere erklären wir uns selbst und anderen das Leben, versuchen zu verstehen, rechtfertigen unsere Handlungen, wählen aus, erfinden, verwerfen, schließen ein und grenzen ab. Wie wir Menschen auf diese Weise unser Selbst konstituieren und es gleichzeitig nicht fassen können, das beschäftigt uns hier auf dieser Website schon seit längerem. magic open book of fantasy stories Ein kleiner Rückblick auf Aspekte, auf die wir dabei gestoßen sind 1: David Loy schreibt darüber, dass wir Menschen die Welt nur durch das Erzählen von Geschichten ordnen und verstehen können. Nicht darin liege ein Problem, sondern darin, dass wir uns das meist nicht bewusst machen und so tun, als wären unsere Geschichten die Welt. Dahinter steht einfach oft Angst, weil wir unser „Ich“ – wenn wir es von allen anderen als getrennt erleben – nie wirklich stabilisieren und so autark machen können, wie wir uns das wünschen. Dieses Getrenntsein sei aber eine Illusion; zum Erwachen gehöre die Erkenntnis, dass meine Geschichte nur Teil einer viel umfassenderen Geschichte aller Menschen, aller Lebewesen sei. Freiheit liege darin, sich in diesen Geschichten bewegen, die eigenen Rollen und Blickwinkel wechseln zu können. Julian Baggini arbeitet vor allem heraus, dass das „Selbst“, von dem hier die Rede ist, keine Illusion sei, wohl aber die Vorstellung von seiner unveränderlichen, unsterblichen Essenz. Thomas Metzinger spricht von einem „Selbstmodell“ im menschlichen Gehirn, bei dem es sich um eine begriffliche Hilfskonstruktion handle, die wir aber nicht als solche erfahren könnten. Er weist darauf hin, dass wir unter diesem „Selbstmodell“, verletzlich wie es sei, oft leiden, weil wir andauernd versuchten es aufrechtzuerhalten und zu stärken. Gemeinsam ist ihnen, dass für sie alle Narrative Konstrukte sind, die auch umgebaut, anders beleuchtet, aus ungewohnten Blickwinkeln gesehen werden können. Unsere Geschichten und die Art, wie wir sie erzählen, können Dukkha in unserem Leben steigern oder verringern. Stephen Batchelor geht handlungsorientiert an das Thema heran. In dem Prozess, sich dem zu überlassen, wie das Leben selbst sich entfalte, gebe es nichts, worauf man sich berufen könne und sagen: Das bin ich wirklich. Das heiße aber nicht, dass ich nicht existiere. Batchelor betont, für Buddha sei das Selbst ein Projekt, das wir verwirklichen sollten und nicht ein Zustand, der nach Bestätigung oder Ablehnung verlange. Er zitiert Buddhas Worte:

Wie ein Bauer sein Feld bewässert, wie ein Pfeilmacher einen Pfeil formt, wie ein Tischler ein Stück Holz bearbeitet, so zähmt der Weise das Selbst.

Victor von der Heyde weist darauf hin, dass wir unsere eigenen Geschichten kaum hinterfragen und also meist nur recht vage Vorstellungen davon haben, wie wir uns selbst definieren. Es gehe darum, Einfluss auf die Selbstbilder zu nehmen, an denen wir manchmal zu sehr festhalten. Es sei möglich, diesen Griff zu lockern. Er stellt einige ganz praktische Möglichkeiten vor, die helfen können, unsere Blickwinkel zu öffnen und zu erweitern. David Loy spricht in seiner Auseinandersetzung mit dem „Selbst“ über den Text seines Lieblingsstickers: Glaub nicht alles, was du denkst. Eine aufmerksame Leserin hat uns darauf hingewiesen, dass er hier Byron Katie zitiert. Bevor wir über ihre Arbeit berichten, wollen wir in einem nächsten Beitrag Worte von Siddharta Gautama über das Denken einblenden.

  1. Das ist nur eine kurze Zusammenschau. Weiterführende Literaturhinweise finden sich bei den früheren Beiträgen über die zitierten Autoren auf diesem Blog

Ihn hätten viele Historiker gern vergessen: U Dhammaloka

Wie sind die Lehren Siddharta Gotamas in den Westen gekommen? Auf welchen Wegen haben sich Vorstellungen von „Buddhismus“ in Europa und Nordamerika verbreitet?

Europäer begannen ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Lehren Buddhas zu studieren und ihnen zu folgen. Männer wie die Engländer Bhikku Asoka (H. Gordon Douglas) und Ananda Metteyya (Allan Bennett) sowie der Deutsche Nyanatiloka (Anton Gueth) lebten und lehrten viele Jahre in Burma, Ceylon und anderen ostasiatischen Ländern als ordinierte buddhistische Mönche. Sie waren „gentleman scholars“ und fanden in Europa vor allem in akademischen Kreisen Beachtung und Widerhall. Es ging ihnen darum, mit der Präsentation von Buddhas Lehre herauszustreichen, dass diese westlicher Philosophie und Religion ebenbürtig sei; sie vertraten intellektuelle Respektabilität. Verschiedenartigkeit und Widersprüche blieben dabei vorerst auf der Strecke, vor allem aber der Blick auf die Funktion, die Buddhismus in seiner jeweiligen Gesellschaft ausüben kann und soll.

Noch vor diesen intellektuellen Mönchen hat ein Mann gewirkt, der aus einer ganz anderen Ecke kam: U Dhammaloka.

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Geboren ist er in den 1850er Jahren in Dublin wahrscheinlich unter dem Namen Lawrence Carroll 1 als Sohn eines Gemüsehändlers. Er ging früh von zuhause fort und schlug sich als Landstreicher durch, gelangte per Schiff in die USA, die er als Wanderarbeiter von Ost nach West durchquerte. Von dem Schiff, auf dem er angeheuert hatte, wurde er in Japan wegen betrunkenen Randalierens runtergeworfen. In der Blütezeit der Kolonialisierung hatte er in Ostasien von vornherein keinen leichten Stand: ungebundene und arme Weisse wie er waren für die Kolonialbehörden unerwünscht, weil ihr bloßes Dasein die Überlegenheit der weißen Rasse in Frage stellte und die Grenzen zwischen europäischen Herren und eingeborenen Untertanen verwischte. Carroll kam nach Rangoon in Burma, wo er als Angestellter bei einer der Firmen arbeitete, die Tropenholz schlägerten und vermarkteten. Er war kein Analphabet, hatte aber über Lesen und Schreiben hinaus so gut wie keine formale Bildung. Vom strengen Katholizismus seiner irischen Heimat hatte er sich radikal distanziert, auf seinen Fahrten war er vertraut geworden mit den Ideen der Freidenker, die einen atheistischen Humanismus vertraten. In Burma lernte er Buddhas Lehre kennen, die dort allgegenwärtig war; um 1884 trat er als Novize in ein Kloster ein, wo er die nächste Zeit verbrachte. Nach einigen Jahren des Studiums und der Praxis, in denen er auch die Landessprache erlernte, wurde er zum Theravada-Mönch ordiniert. Im Jahr 1901 trat er erstmals öffentlich in Erscheinung: er kritisierte einen indischen Polizeioffizier, der eine Pagode mit Schuhen betreten hatte. In burmesischen Zeitschriften veröffentlichte er Anzeigen, in denen er sich scharf gegen die vielen christlichen Missionare wandte, von denen er schrieb, sie kämen mit Bibel, Schnapsflasche und Gewehr daher. British_forces_arrival_mandalay1885 Auf vielen Predigt-Reisen in Burma, in Japan, Siam, Indien, Ceylon und anderen Ländern rief U Dhammaloka, wie er nun genannt wurde, die Bevölkerung dazu auf, ihre eigene buddhistische Kultur und Religion zu bewahren. Besonders in Burma hatte er enormen Zulauf; Tausende kamen, wenn er witzig, schlagfertig und redegewandt predigte. Die buddhistische Lehre auszulegen überließ er anderen, aber er trat vehement und unerschrocken für ihren Fortbestand als Teil der nationalen Identitäten und damit implizit auch gegen die kolonialen Machthaber auf. Er hatte sich auch zum Temperenzler, also zum aktiven Gegner des Alkoholtrinkens gewandelt. Als Plattform und Sprachrohr gründete er die „Buddhist Tract Society“, wo er selbst zahlreiche Artikel und Traktate in diesem Sinn veröffentlichte. Buddhist_Tract_Society_Burma_logo Er korrespondierte mit „Freidenkern“ in aller Welt und veröffentliche einschlägige Literatur in Burma. Im Jahr 1910, nach zehn Jahren unermüdlicher Tätigkeit, wurde er wegen Aufwiegelung angezeigt und verurteilt. Danach verliert sich seine Spur – wann und wo er gestorben ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Trotz seiner großen Bekanntheit in Ostasien, aber auch in internationalen Freidenker-Kreisen während seiner Wirkungszeit von 1900-1910 ist U Dhammaloka für Jahrzehnte auch für Historiker fast ganz in Vergessenheit geraten. Die Fachleute, die in den letzen Jahren begonnen haben, sich mit seiner Person zu beschäftigen, halten das für keinen Zufall: Zu groß ist die Diskrepanz zwischen U Dhammalokas engagiert-pragmatischem Einsatz als Buddhist in der gesellschaftlichen Situation, die er vorgefunden hatte und dem hehren, weltabgewandten Bild von Buddhas Lehre, das akademische Mönche der Welt vermittelt haben und das bis heute in westlichen Buddhistinnen und Buddhisten nachwirkt. Vor einigen Jahren haben eine Forscherin und zwei Forscher ursprünglich unabhängig voneinander begonnen, sich mit U Dhammaloka und seinem Werk auseinanderzusetzen 2. Die Chancen stehen gut, dass U Dhammaloka/Laurence Carroll bald noch bekannter werden wird: der mehrfach preisgekrönte irische Dokumentarfilmer Ian Lawton bereitet soeben die Produktion eines Films mit dem Titel: The Dharma Bum vor. coque iphone Für diese unabhängige, frei finanzierte Arbeit wirbt und sammelt er auf der Website: https://dana.io/thedharmabum. Wie wär’s mit einem finanziellen Beitrag? In einem Interview mit dem US-amerikanischen säkularen Buddhisten Ted Meissner 3 sagt Lawton: Geschichte wird von den Mächtigen geschrieben. Das muss ja nicht immer und überall so bleiben.

  1. er hat später auch andere Namen gebraucht
  2. Das sind: Alicia Turner, Laurence Cox und Brian Bocking: In dem Youtube-Video https://www.youtube.com/watch?v=3mUil5bVPsI erzählt Bocking über die Vernetzung und gemeinsame Forschung der drei WissenschafterInnen. Eine informative Einführung von Laurence Cox mit dem Titel: Laurence O’Rourke / U Dhammaloka: working class Irish freethinker, and the first European bhikkhu findet sich in: http://www.globalbuddhism.org/10/cox09.pdf (in englischer Sprache)
  3. http://secularbuddhism.org/2015/05/31/episode-224-ian-lawton-the-dharma-bum-dhammaloka/

Da ist uns einiges entgangen
Das Werk des Lukrez geht uns an, aber kaum jemand kennt es

Ein paar Sätze sind uns, die wir im christlichen Abendland sozialisiert wurden, in die Herzen und Hirne eingewachsen und haben uns geprägt, ob unsere Erziehung religiös war oder nicht. Auch wenn wir sie heute zumindest teilweise nicht mehr für bare Münze nehmen, sind sie nicht leicht loszuwerden – in unseren Hinterköpfen tragen wir sie weiter mit uns herum:

Die Welt ist von einem Gott erschaffen worden. Für schuldhaftes Handeln bestraft er uns, vielleicht auch noch nach dem Tod, den wir fürchten. Der Mensch hat eine unsterbliche Seele, er ist die Krone der Schöpfung und damit wertvoller als andere Lebewesen. Er soll sich die Erde untertan machen, und das am besten schnell. Dafür muss er sich von anderen Menschen abgrenzen und in Konkurrenz zu ihnen treten. Persönlicher Besitz gibt Sicherheit, je mehr, desto besser. Sinnenfreude und sorgenfreie Lust sind verdächtig.

Es gibt in der europäischen Geistesgeschichte eine starke Minderheit von Denkern, die all das – immer entsprechend den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit, in der sie lebten – in Frage gestellt haben. Einer dieser Männer war der römische Dichter und Philosoph Titus Lucretius Carus, der im ersten Jahrhundert v.u.Z. lebte. Er hat ein einziges Werk hinterlassen: Das Lehrgedicht De rerum natura – Über die Natur der Dinge 1.

lukrezEs beginnt mit einem hochgestimmten Loblied auf die Schönheit und Fruchtbarkeit der Erde. Im folgenden lehrt Lukrez:

Einen Schöpfergott gibt es nicht, nur Körper und Leere, sonst nichts. Materie besteht aus Atomen, die sich in unendlicher Zahl im leeren Raum bewegen. Durch die immer wiederkehrende Veränderung ihrer Stellung zueinander mit kleinen zufälligen Abweichungen entstehen die Dinge und die Lebewesen: die Natur experimentiert unaufhörlich. Wenn Vorhandenes stirbt, entsteht daraus Neues. Das Universum ist nicht geschaffen worden, schon gar nicht für oder wegen der Menschen – diese sind vergänglich wie alle anderen Lebewesen und ihnen nicht überlegen. Die Seele ist sterblich wie der Körper, weil sie von ihm nicht zu trennen ist. Es gibt kein Leben nach dem Tod, aber dieser berührt uns auch nicht, weil unser Empfinden dann ausgelöscht sein wird. Es gibt einen Kreislauf des Lebens, das wie bei einem Fackellauf in immer neuer Form weitergegeben wird. Ein gutes Leben zu führen bedeutet, alles maßvoll zu genießen, was die Sinne bieten, darunter auch Sexualität, obgleich dabei immer ein Rest Sehnsucht bleibt, weil Verschmelzung für zwei Menschen nicht möglich ist. Genuss ist erstrebenswert, Luxus aber sinnlos und überflüssig. Glück kann nicht auf Kosten anderer erreicht werden. Gemütsruhe ist höchstes Ziel, die größten Hindernisse dafür sind übermäßiges Begehren und die Angst vor dem Tod – beides kann durch Vernunft ausgeräumt werden. Dabei dürfen die Gedanken nie dem sinnlichen Empfinden widersprechen. Religionen sind abergläubische Täuschungen, entstanden aus der Angst der Menschen vor Naturphänomenen wie Blitz und Donner und dem Unwissen über deren Ursachen. So haben die Menschen sich Götter erfunden und sie im Himmel angesiedelt; diese sind aber ganz entrückt und kümmern sich nicht um das, was auf der Welt geschieht. Götterglaube hat den Menschen viel Leid gebracht. Ehrfurcht liegt nicht in Götzenverehrung, sondern nur darin, allem und allen mit ruhigem Geist zu begegnen.

Gegen Ende des Textes beschreibt Lukrez Naturphänomene wie Gewitter, Wolken, Regen und Regenbogen und erklärt sie; so wirkt er abergläubischen Vorstellungen entgegen. de rerum naturaDas Gedicht umfasst circa 7400 Verse in geschliffenem, poetischen Latein von großer sprachlicher Schönheit. Es ist eine umfassende Darstellung der Philosophie von Epikur 2, dem verehrten Vorgänger des Lukrez. Epikurs Lehre war mehrere Jahrhunderte lang in der antiken Welt unter einer großen Schar von Anhängern weit verbreitet. Seine Philosophie ist in keinem anderen Text so ausführlich überliefert wie hier. Lukrez würdigt Epikur mehrmals bewundernd als seinen Lehrer – sich selbst nennt er eine Schwalbe neben diesem Schwan. Einiges erinnert an Gotama Siddhartas Lehre. Ohne in Details zu gehen: Heutige Forscher sind sich einig, dass es zwischen den Ideenwelten des frühen Buddhismus und altgriechischer Philosophie Parallelen und Querverbindungen gibt, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zufällig sind und auf Kontakte zwischen Indien und Griechenland zurückzuführen sein dürften 3. Und eine geistige Verwandtschaft klingt auch für uns Heutige an, wenn wir Lukrez lesen. So sehr De rerum natura von den Zeitgenossen geschätzt und eifrig gelesen wurde: das nahm ein Ende. Der Staat machte sich daran, die Traditionen eigenständig-kritischen Denkens und die selbstverständliche Koexistenz heidnischer Kulte zu zerstören. Es lag im Interesse der kaiserlichen Macht in Rom, die monotheistische Lehre aus dem Vorderen Orient, die nach den anfänglichen Christenverfolgungen viel Zulauf fand, institutionell zu verfestigen. Im 4. Jahrhundert machte Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion; im Zuge der Durchsetzung dieses Schritts wurde der Zugang zu Büchern wie dem des Lukrez, die potentiell subversiv wirken konnten, erschwert, sie wurden öffentlich lächerlich gemacht oder einfach verboten. Das Bild von abgehobenen Göttern im Himmel, die an Menschenschicksalen nicht interessiert sind, passte nicht zu der Vorstellung vom strafenden Schöpfergott. Die Angst vor einer übermächtigen Instanz zu schüren erwies sich als eine gute Strategie, die Angepasstheit von Untertanen sicherzustellen – der Aufklärer Lukrez verfolgte diametral entgegengesetzte Ziele: eigenständiges Denken zu fördern, allem Aberglauben entgegenzuwirken und Angst zu verringern. Nur eine einzige Handschrift seines bis dahin weit verbreiteten Gedichts überlebte. Sie wurde im 15. Jahrhundert von einem italienischen Büchersammler in einem deutschen Kloster aufgespürt 4. Erst im Verlauf der Renaissance und mit dem Aufkommen des Buchdrucks wurde der Text wieder bekannter. Männer wie Michel de Montaigne, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Albert Einstein und Albert Camus haben ihn geschätzt und sich auf ihn berufen. Und warum erzähle ich euch das alles? Ich denke daran, wie anders persönliche Entwicklungsgeschichten verlaufen wären, wenn wir im Geiste von Texten wie diesem erzogen worden wären. Wir würden mit weniger Angst leben, meine ich, näher an der Realität, würden uns weniger mit Ideen vom Leben nach dem Tod herumschlagen und wären mit dem Hier und Jetzt besser vertraut. Nun, so ist es nicht gelaufen. Zum Glück haben wir die Kalama-Sutta 5.

  1. Der Text, in Hexametern verfasst, ist im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung zumindest teilweise im Internet zugänglich, z.B. unter: http://www.gottwein.de/Lat/lucr001_inh.php. Eine neue Prosaübersetzung von Klaus Binder ist 2014 erschienen. Unter http://www.textlog.de/lukrez-natur-dinge.html gibt es eine informative Einführung dazu
  2. Über diesen griechischen Philosophen und seine Lehre gibt es einen ausführlichen und informativen Eintrag in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Epikur
  3. Darum geht es in Thomas McEvilleys umfangreichem Werk: The Shape of Ancient Thought, 2002; s. auch der Beitrag: Alles hängt zusammen auf diesem Blog
  4. Spannend und gut lesbar ist die Rezeptionsgeschichte von De rerum Natura erzählt in: Stephen Greenblatt, The Swerve, How the world became modern, 2011, dt.: Die Wende: Wie die Renaissance begann, 2012, auch als E-Book erhältlich
  5. das ist die berühmte Lehrrede des Buddha, an Laien gerichtet, in der er ermutigt, sich eigene Meinungen zu bilden. Eine deutsche Übersetzung findet sich auf: http://www.buddhayana-ev.de/inhalte/kalama-deu.htm