Buddha und die Mächtigen seiner Zeit
Eigenständigkeit zwischen Einordnung und Widerspruch

images Siddharta Gotama war, wie wir alle, ein Kind seiner Zeit, geboren und aufgewachsen unter konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Er hat einerseits gute Beziehungen mit Mächtigen, mit einflussreichen und wohlhabenden Leuten gepflegt und darauf konnte er im Bemühen um den Fortbestand der Gemeinschaft, die er gegründet hatte, auch nicht verzichten. Gleichzeitig hat er selbstbewusst eine Lehre verkündet, die in diametralem Widerspruch zu gesellschaftlichen Normen und religiösen Grundvorstellungen seiner Umwelt stand. Wie hat er Einordnung und Widerspruch so gelassen unter einen Hut gebracht? Wie hat denn die Welt zu Buddhas Lebzeiten in Nordindien im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ausgesehen? Der deutsche Buddhismusforscher Hans Gruber gibt dazu eine historische Zusammenfassung, die ich so informativ finde, dass ich sie hier ausführlich wörtlich zitieren möchte 1:

Etwa seit dem 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung waren Nomadenvölker in Nordwestindien eingefallen, die sich „Ârya“ (sanskrit für „Edle“) nannten. Sie teilten ein (bisher nicht genau lokalisiertes) gemeinsames Ursprungsgebiet mit den Völkern, welche dereinst in Richtung Europa abgewandert waren. Aus diesem Grunde sind die europäischen und die nordindischen Sprachen eng verwandt. Um die Zeit des Erwachten (6.-5. Jh. v. Chr.) hatten sich diese Eroberer in ganz Nordindien voll etabliert, mit einem Klassensystem, das aus den vier Hauptständen besteht: Die Priester, Geistlichen und Lehrer „Brahmanen“; die Krieger, Adeligen und Machthaber „Kshatriyas“; die Händler, Viehzüchter und Bauern „Vaishyas“; sowie zuletzt die große Mehrheit der zuarbeitenden, abhängigen Bevölkerung „Shûdras“. Außerhalb dieser Vierergesellschaft stehen ganz unten die Unberührbaren „Parias“. Durch schrittweise Vermischungen sind zahlreiche „Kasten“ entstanden. Die Parias und die Shûdras rekrutierten sich primär aus den Unterworfenen, während die drei höheren Klassen (die sogenannte „arische Gesellschaft“) aus den Eroberern bestanden. An der Spitze dieses Systems stehen nun die Brahmanen, die eine für das Volk rituell und spekulativ orientierte Religion des Opferkultes führen. Die höchst umfangreichen Schriften des „Veda“ (Wissen, Heilige Lehre) dienen ihnen hierzu als Quelle, die bloß die Angehörigen jener arischen Gesellschaft hören dürften. Ihnen gelten die Veden als „göttlichen Ursprungs“ bzw. den alten Sehern „offenbart“. In dieser Ordnung spielen die Opferrituale, die alleine die Brahmanen ausführen dürften, für das spirituelle Heil und das gesellschaftliche Wohl die entscheidende Rolle. Dadurch erklärt sich die Vorrangposition der Brahmanen. Nachdem sich die Invasoren etabliert hatten, kam es im Zuge der Herausbildung einer städtisch arbeitsamen Kultur durch völlig neue Kriegs- und Arbeitsgeräte (infolge der Eisenschmelze) zu einem Umbruch des altüberlieferten Gesellschaftssystems. Die Bedeutung der Krieger und Herrscher „Kshatriyas“, aber auch der Händler und Handwerker wuchs zunehmend. Die Kshatriyas konkurrierten mit den Brahmanen jetzt offen um das höchste Wissen… In dieser Epoche wurde die individuelle Leistung oder „Persönlichkeit“ immer wichtiger, im Unterschied zur althergebrachten Hochbewertung von Rasse mit Hautfarbe, Stand, Kaste und Geschlecht…In spiritueller Hinsicht war es die „Ära der Wanderasketen“, die aus unterschiedlichen Schichten kamen, um als Wanderer und Waldeinsiedler die Erlösung vom Daseinskreislauf „Samsâra“ zu verwirklichen.

Unter diesen äußeren Rahmenbedingungen wurde Siddharta Gotama als Sohn und potentieller Nachfolger eines regionalen Fürsten geboren. Die Legende, wie sein Vater ihn vom Leid in der Welt durch ein Luxusleben im Palast fernzuhalten versuchte, ist bekannt; verbrieft ist, dass er mit etwa dreißig Jahren Familie und Palast verließ und in die „Hauslosigkeit“ zog. In einer mehrjährigen, schwierigen Phase erarbeitete er sich teils mit anderen Wandermönchen, vorwiegend aber allein in einer Art Versuch-und-Irrtum-Verfahren die Grundzüge seiner späteren Lehren. Er hat die häufig extremen religiösen Übungen von Wanderasketen kennengelernt, versucht und hinter sich gelassen. In diesem gesellschaftlichen Kontext die Lehre vom „Mittleren Weg“ zwischen den Extremen asketischer Selbstkasteiung und uneingeschränkter Hingabe an Genuss zu entwickeln, war Siddharta Gotamas historische Leistung und der erste Hinweis, dass sein Weg…ähnlich auch von den Laienanhängern in ihrem Leben in der Welt verwirklicht werden kann, wie Hans Gruber formuliert 2:

Der mit Desorientierung verbundene Umbruch von der altüberlieferten zur neuen Ordnung förderte den Willen, tief tragfähige spirituelle Werte zu verwirklichen. Was nun einfach immer mehr zählte, war Entschlossenheit und persönliche Vorzüge (spirituell wie weltlich), entgegen äußerer „Form“. Damit haben die Kastenniederen und Kastenlosen im Vergleich zu den Kastenhohen, die Laien im Vergleich zu den professionellen „Geistlichen“, sowie die Frauen im Vergleich zu den Männern bis dahin ungekannte, neue weltliche und spirituelle Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Diese Tatsache wird besonders an der Urgemeinde des Erwachten klar: Hier haben die Frauen, Laien und früheren Kastenniederen oder Kastenlosen neben den Männern, Ordinierten und früheren Kastenhohen historisch erstmals eine Hauptrolle als selbst den inneren Heilsweg Verwirklichende eingenommen.

Mit Siddharta Gotamas weiterem Leben hat sich Stephen Batchelor, ausgehend von Texten des Pali-Kanon ausführlich und ohne Heiligenverehrung auseinandergesetzt 3. Batchelor beschreibt, wie Gotama, nachdem er sich nach einigem Zögern entschlossen hatte, seine Lehre öffentlich zu verbreiten, sich um das physische Überleben seiner Gemeinschaft kümmerte. Für seine umherziehende Gruppe von „Hauslosen“ brauchte es Unterkünfte während der Zeit der monatelang dauernden heftigen Monsunregen. Ein erster hochgestellter Anhänger, König Bimbisara, bot ihm dafür einen Park, den Bambus-Hain, an, später gab es ein ähnliches Angebot des wohlhabenden Bankkaufmanns Anathapindika, beides wurde akzeptiert und genutzt. gotama und könig bimbisara König Bimbisara und Siddharta Gotama

jeta-hainJeta-Hain, von Anathapindika zur Verfügung gestellt

Während der vielen Regenzeiten, die Gotama mit seinen Anhängern in diesem Hain verbrachte, achtete er besonders darauf, ein gutes Verhältnis mit dem örtlichen König Pasenadi zu pflegen. Batchelor schreibt 4:

Die vielen überlieferten Dialoge zwischen ihnen vermitteln den Eindruck, dass die beiden Männer sich gut kannten. Ihr Austausch ist geprägt von Freimütigkeit und fehlender Förmlichkeit. Manchmal scheint der König Gotama zu necken oder zu provozieren, als ob er ihn testen wollte. Und die Antworten Gotamas erscheinen oft zurückhaltend und vorsichtig, als sei er auf der Hut, etwas zu sagen, was der König als Angriff verstehen könnte.

Batchelor schildert ein Gespräch zwischen den beiden, in dem der König Gotama wissen lässt, dass er als Mönche verkleidete Spione einsetze. Gotama gibt nicht zu verstehen, dass das keine gute Idee sei, sondern bemerkt nur: In der Verkleidung als disziplinierte Männer ziehen undisziplinierte Männer durch das Land. Batchelor belegt noch durch andere Beispiele, wie Gotama als ein Teil des gesellschaftlichen Gefüges agierte, in dem er lebte, und im Interesse seiner Gemeinschaft auf ein gutes Verhältnis zu seinen Gönnern, unter denen mächtige Männer waren, Wert legte. Dass er von ihnen anerkannt wurde und sie sich seiner Lehre anschlossen, wird neben seiner persönlichen Überzeugungskraft und seinem Charisma zumindest anfangs dadurch begünstigt worden sein, dass er selbst „aus besseren Kreisen“ stammte. Aber er war weit davon entfernt, irgendjemandes Günstling zu sein. Stephen Batchelor schreibt über seine Stellung zum Establishment seiner Zeit 5:

Siddharta Gotama war ein Nonkonformist, ein Radikaler…Er wollte nichts mit der priesterlichen Religion der Brahmanen zu tun haben. Er wies ihre Theologie als unsinnig, ihre Rituale als nutzlos und die soziale Struktur, die ihnen ihre Macht verlieh, als ungerecht zurück….Er weigerte sich, die Rolle eines erleuchteten Gurus zu spielen, der von seinen Schülern kritiklose Unterwerfung fordert, bevor er ihnen Lehren, die einer spirituellen Elite vorbehalten sind, unterbreitete.

In der Esukari-Sutta spricht Gotama eine deutliche Sprache 6:

In wessen Dienste dienend ich schlechter würde, nicht besser: dem mag ich nicht dienen; in wessen Dienste dienend ich aber besser würde, nicht schlechter: dem mag ich dienen. Ich sage nicht, Priester, dass hohe Geburt besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass hohe Geburt schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass große Schönheit besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass große Schönheit schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass großer Reichtum besser mache; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass großer Reichtum schlechter mache. Auch von hoher Geburt ist ja da, Priester, mancher ein Mörder, ist ein Dieb, ist ein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Hass und Eitelkeit: darum sag‘ ich nicht, dass hohe Geburt besser mache. Auch von hoher Geburt ist ja da, Priester, mancher kein Mörder, ist kein Dieb, ist kein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist kein Zänker und Schwätzer, ist nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt: darum sag‘ ich nicht, dass hohe Geburt schlechter mache. Auch mit großer Schönheit, Priester, auch mit großem Reichtum ist ja da mancher ein Mörder, ist ein Dieb, ist ein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Hass und Eitelkeit: darum sag‘ ich nicht, dass große Schönheit, großer Reichtum besser mache. Auch mit großer Schönheit, Priester, auch mit großem Reichtum ist ja da mancher kein Mörder, ist kein Dieb, ist kein Wüstling, Lügner, Verleumder, ist kein Zänker und Schwätzer, ist nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt: darum sag‘ ich nicht, dass große Schönheit, großer Reichtum schlechter mache. Ich sage nicht, Priester, dass man jedem dienen solle; ich sag‘ auch nicht, Priester, dass man keinem dienen solle. Denn bei wem da, Priester, indem er einem dient, durch den Dienst das Vertrauen zunimmt, die Tugend zunimmt, die Erfahrung zunimmt, der Opfermut zunimmt, die Weisheit zunimmt: dem, sag‘ ich, soll man dienen. Ebenso nun auch, Priester, kann wer da aus einem Kriegergeschlechte oder Priestergeschlechte oder Bürgergeschlechte oder Dienergeschlechte vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen und zu des Vollendeten dargelegter Lehre und Ordnung gekommen ist, von Mord absteht, von Diebstahl absteht, von Unkeuschheit absteht, von Lüge, Verleumdung, Zank und Geschwätz absteht, nicht begehrlich, nicht gehässig, recht gesinnt ist, Echtes erwirken, heilsames Recht.

Gotama hat hier – wie auch in anderen Fällen – einen traditionellen Begriff aus eigenem umdefiniert: edel war für ihn nicht ein Mensch, der in eine „edle“ Kaste hinein geboren war, sondern der ein edles Leben führte. Damit öffnete er seine Lehre für Angehörige aller Kasten, und machte sich gleichzeitig Vertreter der überkommenen Weltsicht und Religion, vor allem Brahmanen, zu Gegnern. Wie er mit der Aufnahme von Frauen in seine Gemeinschaft umging, ist bekannt: trotz seiner grundsätzlich offenen Haltung sträubte er sich lange dagegen. Erst durch weibliche Hartnäckigkeit ließ er sich umstimmen, nicht ohne den Nonnen strengere Regeln aufzuerlegen als den Mönchen. Stephen Batchelor kommentiert das mit dem Hinweis, wie ungeheuerlich in der indischen Gesellschaft zu Buddhas Zeit der Gedanke war, Frauen den Männern gleichzustellen. Mönche mussten sich strikt von Frauen, die samt und sonders als Repräsentantinnen verwerflicher Lust galten, fernhalten. Gotama lief Gefahr, seine ganze Gemeinschaft zu gefährden, wenn er hier nicht sehr vorsichtig vorging. Siddharta Gotama war diplomatisch und lehrte radikal; er war kein Revolutionär, kein Bilderstürmer. Er lebte und handelte wegweisend, nicht kämpferisch, und unter allen Umständen gewaltfrei. Den Themen seiner Zeit hat er sich nicht entzogen, aber sich nie verstricken lassen. Er entwickelte und vertrat seine Lehre eigenständig, er war sich selbst eine Insel. Zeitlebens lehnte er ab, ein Führer zu sein, und bestimmte auch keinen für die Zeit nach seinem Tod. Dabei setzte er auf die Kraft des Dharma und der Gemeinschaft. Von sich selbst sagte er, er hätte nur ein Thema: das Leiden und das Ende des Leidens. Diese Klammer verbindet uns alle.

  1. http://www.buddha-heute.de/rubrik-06/hinduism-buddhism.htm. Gruber verwendet in diesem Text die Bezeichnung „der Erwachte“ für Siddharta Gotama
  2. s. Anm. 1
  3. Batchelor, Stephen: Bekenntnisse eines ungläubigen Buddhisten, München 2010, S. 130ff. u. passim, engl. Original: Confession of a Buddhist Atheist, New York 2010
  4. s. Anm.3, S 213f.
  5. s. Anm. 3, S 176
  6. Esukari Sutta, Majjima Nikaya 96

Hans im Glück

hans im glückWir kennen das Märchen 1: Der Hans erhält als Lohn für sieben Jahre fleißiger Arbeit einen großen Goldklumpen. Den tauscht er gegen ein Pferd, weil er ihm zu schwer zu tragen ist. Das Pferd ist zu störrisch, und er erhält eine Kuh dafür. Die gibt aber keine Milch, und so tauscht er sie gegen ein Schwein. Der nächste Tauschpartner redet Hans ein, das Schwein könnte gestohlen sein, also bekommt er eine Gans. Dann trifft er auf einen Scherenschleifer und tauscht ein letztes Mal: Gans gegen Wetzstein, und einen Feldstein als Unterlage beim Schleifen. Beide fallen ihm später ins Wasser, so ist er sie los, fröhlich kommt er nach Hause. Der Hans ist also ein Dummkopf? Auf jeden Fall ist er ein fleißiger, freundlicher Mensch. Für seine Entscheidungen hat er immer gute Gründe: den Nutzen für die Gegenwart, nicht den Geldeswert seines Eigentums. Im Gegensatz zu all seinen Tauschpartnern handelt er arglos und versucht nicht, um eines vermeintlichen Vorteils willen zu betrügen. Unbeschwert kehrt er heim. Kürzlich ist die Schwester einer Freundin gestorben. In einem Abschiedstext schrieb sie über Hans im Glück: …Dieser scheinbare Tölpel, der ständig draufzahlt und es nicht einmal merkt! Der arbeiten, verdienen und herzhaft verlieren kann, und noch glücklich dabei ist: innere Leichtigkeit macht ihn zum großen Gewinner. Hans musste gar nicht abwerfen, was ihn beschwert hat, er hat es einfach fallen lassen.

Linksverkehr

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass der Dalai Lama empfiehlt, jedes Jahr an einen unbekannten Ort zu reisen. In Australien war ich zwar früher schon, aber auch bei meinem jetzigen Aufenthalt ist vieles noch neu und frisch. Dass die Menschen englisch sprechen und die Autos auf der anderen Seite der Strasse fahren, versteht sich. Aber da gibt es noch viele Dinge, die anders sind als gewohnt.

papagei

Das gruene Gras hat einen Stich ins Gelbliche. Manche Lebensmittel – auch bekannte wie Kartoffel – schmecken anders als bei uns. Auch in Staedten fliegen, laut kraechzend, kleine und grosse Papageien. Wenn man zur Brutzeit mit dem Fahrrad zu nah am Nest eines Magpies – das ist ein elsternartiger Vogel – vorbeifaehrt, kann es einem passieren, dass man mit lautem Gekreisch und Schnabelhieben attackiert wird. Eukalyptusbaeume werfen nicht die Blaetter ab, sondern die Rinde. Wenn die Menschen von schlechtem Wetter reden, meinen sie grosse Hitze, und alle freuen sich, wenn es regnet. Im Meer kann man nicht gut schwimmen: die Brandung ist meist zu stark, dafuer gibt es ueberall Pools, und Lagenschwimmen ist Volkssport. Es gibt ganz viele gepflegte oeffentliche Toiletten (ein Segen fuer TouristInnen!). Die Tastaturen der Computer sind anders (wie man an diesem Text sehen kann). Die Menschen auf der Strasse, im Bus und in Geschaeften sind so freundlich, dass frau – an grantige Wienerinnen und Wiener gewohnt – es anfangs kaum glauben kann. Ins Gespraech zu kommen ist sehr viel leichter als bei uns. Frau braucht mehr Aufmerksamkeit und bekommt einen frischen Blick. Manches macht Angst, und Manches macht locker; weniger Dinge als zu hause sind so selbstverstaendlich, dass sie gar nicht bedacht oder erwaehnt werden. Wo er recht hat, hat er recht, der Dalai Lama.

Peer-Retreat, geht das? Wie geht das?

IMG_6514 Ein wenig Spundus haben wir wohl alle vier gehabt, als wir ins Buddhistische Zentrum nach Scheibbs zum ersten von uns vorbereiteten und moderierten Seminar gefahren sind. Erfahrung mit der Teilnahme an Retreats haben wir alle, aber das war jetzt doch etwas anderes. Ohne Lehrerin, ohne Vorträge über klassisch-buddhistische Themen, auch ohne viel Erfahrung mit der Anwendung von „recollective awareness“, der gezielten Erinnerung an das, was während des Sitzens in einem vorgeht. Mit einem Tagesplan, der viel Meditation vorsah, viel persönliches Nachdenken darüber, nur kurze Rede-Impulsen von uns und viel Zeit zum Austausch im Gespräch. Dazu Yoga, gemeinsame Arbeit und Spazierengehen im Schweigen. Außer uns Vieren – Bernd, Cristina, Evamaria, Monika – haben zehn Menschen sich darauf eingelassen. Besonders gefreut hat uns alle, dass eine junge Frau mit sichtbarem Babybauch darunter war; sie hat uns gesagt, dass ihr Kleiner so ruhig war wie sonst nie, und dass er sehr gewachsen sei während der drei Tage. Am Anfang gab es eine Einführung in die Praxis der „recollective awareness“. Über unseren alltäglichen Umgang mit der Zeit, und über das Leben mit Krankheit haben wir Denkanstöße formuliert. Wir hatten für jeden Tag ein Thema, zu dem wir auch immer wieder zurückgekehrt sind: Vertrauen, Freundlichkeit, und Dankbarkeit. Ein paar Bruchstücke aus meiner Erinnerung: Wir sitzen oder liegen nach einer Meditationsrunde im Kreis, alle eifrig mit dem Notieren unserer Erfahrungen beschäftigt – ein ungewohnter Anblick. Wir üben später, uns im Gespräch darüber auszudrücken und durch genaues Zuhören, manchmal durch Nachfragen, die Wahrnehmung zu schärfen, ohne in Diskussionen zu geraten. Einer erzählt da, wie er bei der Gehmeditation auf einem Kiesweg fantasiert habe, hinter ihm ginge jemand, der ihn zur Eile antreibe – da sei aber keiner gewesen außer ihm selbst. Gelächter. Der Austausch über solche Beispiele, wie wir uns selber unter Druck setzen, entspannt. In den Arbeitsperioden beteiligen sich alle gemeinschaftlich am Schlichten von Holz, dem Kehren der Gänge oder dem Putzen von Gemüse. Das Programm war ordentlich dicht; als wir das zu hören bekamen, haben wir eine Phase freundlichen Nichtstuns eingebaut – das hat uns gut getan. Die Atmosphäre habe ich als neugierig, aufmerksam und sehr diszipliniert empfunden, viel Wärme und Wohlwollen füreinander habe ich auch gespürt. Das Seminar ist gut angekommen, wie uns am Ende gesagt wurde. Es hat auch klare Vorschläge gegeben, was ein nächstes Mal – und es soll im Herbst 2015 ein nächstes Mal geben – anders ablaufen könnte. Es gab mehrfach den Wunsch nach mehr Bezug zu Buddhas Lehre. Da haben wir die Kalama-Sutta, Buddhas Ermächtigung an alle Praktizierenden, sich ihren eigenen Weg zu suchen, wohl ein wenig überstrapaziert. Ja, und nicht zu überhören: mehr Pausen soll es geben, zum Trinken, zum Aufs-Klo-Gehen und überhaupt. Unsere Aufrufe, aufmerksam mit unserer Zeit umzugehen und uns nicht zu überanstrengen, könnten wir beim nächsten Mal noch besser beherzigen. Guten Mutes bin ich heimgekommen.

Freude
von Christina Feldman

Bei dem folgenden Text handelt es sich um die freie und gekürzte Übersetzung eines Dharma-Talks zu einem Thema, das in der buddhistischen Literatur ein wenig zu kurz kommt, wie wir meinen 1: Freude wird oft als das Ergebnis harter Arbeit gesehen, als etwas, das entsteht, wenn man ein Problem bewältigt hat. Ich möchte sie anders darstellen: als eine unverzichtbare Einstellung bei der Entwicklung unserer Praxis, eine Qualität des Kultivierens. Buddha lädt uns ein, die Ansicht aufzugeben, wir würden in Momente der Freude und – wenn wir weniger Glück haben – in Momente der Verwirrung wie zufällig hinein stolpern. Die Qualitäten unseres Geistes, nach denen wir uns sehnen und die wir wert schätzen, entstehen nicht zufällig, sondern durch konsequente Pflege und Übung. ChristinaFeldmann In Buddhas Lehren ist viel von Freude die Rede, von dem Pfad zum Glück, der zu Frieden führt. Freude ist eine der Brahmaviharas 2, der edlen Qualitäten des Herzens, und sie ist einer der Faktoren des Erwachens. Es wird so wenig über sie gesprochen, sehr viel dagegen über Leiden. Wir sprechen auch viel über Metta, über Mitgefühl, über Gleichmut, aber das Element der Freude wird in unserer Erfahrung und unserer Praxis ein wenig gering geschätzt, als etwas, was später kommt. Ich finde Freude so wichtig auf unserem Weg, auf dem wir wirklich oft gefordert sind, uns mit vielen Schichten von Schwierigkeiten, Kämpfen und Angst in uns selbst und in der Welt auseinander zu setzen, ohne daran zu zerbrechen. Ohne das Kultivieren von Mitgefühl und Freude können die Schwierigkeiten uns überwältigen. In unserem Alltag, in unserer Meditation stoßen wir immer wieder auf das, was sich unvollkommen und bruchstückhaft anfühlt oder was uns Sorgen macht. Wir brauchen Freude, die unsere Achtsamkeit ausbalanciert und uns daran hindert, unsere Schwierigkeiten zu übertreiben. Freude macht das Herz leicht, sie bringt Zufriedenheit und inneren Raum, sie ist Teil unserer Fähigkeit, uns von allen Dingen berühren zu lassen. Sie ist ein Zustand, der von anderen Zuständen nicht getrennt ist, sie kann gleichzeitig mit Traurigkeit und Sorgen in uns sein. Buddha sagt im Dhammapada 3: Lebe in Freude und Liebe auch unter Hassenden, lebe in Freude und Zuversicht auch unter Bekümmerten, lebe in Freude und Frieden auch unter denen, die Sorgen haben. Buddha spricht da auch vom Zorn, den Kümmernissen, den Sorgen in uns selber und schlägt vor, auf unserem Weg Stille und Freude zu pflegen. Buddha spricht von verschiedenen Arten der Freude: von sinnlicher Freude, von Erbarmen, von Entzücken, von altruistischer Freude, der Freude der Zufriedenheit und der Dankbarkeit, und schließlich von der Freude des erwachten Herzens. Jeder Augenblick ist ein Augenblick der Möglichkeiten, und unser Herz und unser Geist leben in und mit diesen Möglichkeiten. Dieser Geist, dieses Herz, die das Potential haben, soviel Verwirrung, Kampf und Qual zu erleben, sind genau derselbe Geist und dasselbe Herz, die tiefe Ebenen der Freude erreichen können. In unserer Praxis können wir uns bewusst machen, welche Faktoren diese Fähigkeit unterdrücken. Diesen offenen inneren Raum von Freude zu schaffen, daran können wir arbeiten. Freude hat Wurzeln, mit denen wir vertraut sind. Eine davon ist Metta, uneingeschränkte Freundlichkeit. Metta erzeugt ein Gefühl des Verbundenseins anstelle von Abkehr, Furcht und Abneigung – das sind Faktoren, die Freude unterbinden und die Tore unserer Sinne verschließen, sodass unser Herz nicht berührt werden kann. Freude beginnt mit dem bewussten Kultivieren der Bedingungen für Freundlichkeit, für Nicht-Verletzen, für Fürsorge. Im Dhammapada spricht Buddha vom disziplinierten Herzen, das durch Freude einladend wirkt. Um was geht es bei dieser Disziplin? Sicher nicht um Anweisungen und Druck, sondern darum, wie wir von Augenblick zu Augenblick lernen, unseren Geist geneigt zu machen, der Fülle jeden Moments zu begegnen. Eine Dimension von Freude ist Sinnesfreude, die sich deutlich von sinnlichem Verlangen unterscheidet. Es geht um unsere Fähigkeit, wert zu schätzen, uns berühren zu lassen. Viele Meditierende im Westen haben solche Angst, sich an Begierden zu binden, dass sie es nicht wagen, sinnliche Freude zu genießen. Dabei kann z.B. das Genießen von Natur ein starker Verbündeter in unserer Praxis sein. Den Himmel, die Luft auf unserer Haut, den Wind in den Bäumen bewusst zu empfinden, wird uns nicht zu einem Leben in Samsara verurteilen. Es geht um die Fähigkeit, uns berühren zu lassen. Nicht fest zu halten, uns nichts aneignen zu wollen, sondern einfach da sein, dem Schönen zu begegnen und zu wissen, dass es einen Einfluss hat, dass es etwas ist, woran wir uns erinnern können. Wenn wir Augen und Ohren öffnen, uns anrühren lassen, können wir manchmal in der größten Einfachheit Glück im Herzen spüren.

-Flock_of_Seagulls_(eschipul)

Bei der Meditation kann in einem Zustand intensiver Konzentration tiefe Freude aufkommen, Erbarmen mit uns selbst und anderen, oder auch Entzücken. Buddha hat deutlich gewarnt, solche Zustände anzustreben; sie entstehen und vergehen unter bestimmten Bedingungen wie alle anderen Zustände. Das macht sie aber nicht wertlos. Einer der Gründe, warum Menschen Retreats besuchen, liegt darin, dass sie uns einen kurzen Blick auf Freude, Wohlbefinden und Glück, die in unserem Inneren entstehen, möglich machen. Freude, die nicht darin besteht, etwas zu bekommen, nicht darin, etwas loszuwerden oder etwas zu kontrollieren. Dieser direkte Blick auf die Freude, die in uns selbst entstehen kann, verändert unsere Beziehungen zu Menschen und zu unseren Erfahrungen. Wir sind dann nicht länger Geisel der Bedingungen, die uns umgeben, und schlagen uns nicht durchs Leben wie hungrige Wölfe, die immer auf etwas warten, was uns froh und glücklich machen soll. Qualitäten von Freude sind Wertschätzung und Dankbarkeit. Dafür, dass Menschen mit uns in Verbindung stehen, sich um uns kümmern, überhaupt für die vielen Menschen in unserem Leben, auch für die schwierigen. Die Wertschätzung für alle diese Menschen ist eine Praxis des gegenwärtigen Augenblicks: wir sind hier, im einzigen Leben, in dem wir leben, dem einzigen Augenblick, den wir bewohnen können. Hier haben wir die Wahl, wo wir uns niederlassen wollen: in Ärger, Neid, Vorwürfen und Scham, oder in unserer Fähigkeit, still, freundlich und wertschätzend zu sein. Wertschätzung ist auch eine innere Qualität uns selbst gegenüber. Wir können so verurteilend uns selbst gegenüber sein, was unsere Praxis und unsere Entwicklung betrifft. Wir können unsere Zeit aber besser nutzen als für Selbstvorwürfe. Neben dem Auf und Ab unserer Erfahrungen gibt es etwas, was wir tief wertschätzen sollten: unseren eigenen Einsatz und unsere Hingabe an die Praxis. Der menschliche Geist hat eine Neigung dazu, sich auf das Unvollkommene zu konzentrieren, festzuhalten, was falsch läuft, was fehlt. Aus der Sicht der Evolution war das überlebenswichtig; aber wir sind jetzt nicht in einer Situation, wo der Tiger vor der Tür sitzt. Wir sollten lernen, besser wahrzunehmen, was an uns und anderen gut ist. Wir können das Empfangen und Geben üben, eine Art inneren Wohlbefindens, auch in Schwierigkeiten. Wenn es uns gut geht, verdanken wir das immer auch der Freundlichkeit und Großzügigkeit anderer Menschen. Freude hat mit dem Wissen zu tun, was es bedeutet, in der Gegenwart präsent zu sein. Das ist kein Klischee. Es bedeutet, rückhaltlos zu leben und wert zu schätzen, was dabei herauskommt. Wenn unsere Praxis sich vertieft, stellen wir fest, dass nicht alles, was uns bisher bedrängt und geängstigt hat, gleich bleibt. Vielleicht werden wir weniger ungeduldig, weniger urteilend, weniger frustriert. All das gilt nicht immer, es ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, aber: Dinge fallen weg. Und damit verbunden ist ein Gefühl von Freiheit und Freude. Wir lernen, den Augenblick zu befreien. Es mag die Frage entstehen, wodurch Freude behindert wird. Da ist vor allem die Geschäftigkeit unseres Geistes. Was wir an unserer Praxis alles verändern wollen: es ist fast überwältigend, wie viel wir da zu tun haben: weniger Gier, weniger Zorn… So viele Ziele ersticken unsere Fähigkeit, uns zu freuen. Wenn wir Ziele haben und verfolgen, brauchen wir uns nicht die Frage zu stellen: wer bin ich eigentlich? Unser Leben lässt sich füllen mit Plänen, Projekten, Voreingenommenheiten und fixen Ideen. Wir können aber lernen, dass wir dazu nicht lebenslänglich verurteilt sind. Es ist eine Art von Überfüllung, und wir können lernen, mehr Leere zu schaffen. Nicht die täglichen Anforderungen des Lebens hindern uns an der Freude. Ich denke, es sind vielmehr die Obsession und die Gier. Beiden gemeinsam ist Erregung. Sie herrscht, wenn wir auf der Suche nach Lösungen und Antworten obsessiv dieselben Gedankenschleifen wiederholen. Obsession spielt sich im Inneren ab, während Gier die Erregung nach außen richtet. Gier ist eine Obsession, die um das Objekt unserer Begierde kreist, sei das eine Meditationserfahrung oder ein zweiter gefüllter Teller beim Mittagessen. In solchen Momenten kann ich mich fragen: gibt es hier Freude, oder wird Freude gehindert? Freude ist nicht ein bestimmter Zustand, sondern wachsendes Verständnis dafür, was uns im Weg steht. Wir sind nicht lebenslänglich zu Obsession und Gier verurteilt. Praxis hilft uns, die Erregung zu dämpfen. Der wichtigste Aspekt von Freude ist: sie kann eine Welt in Frage stellen, die auf Ablehnung und Gier aufgebaut ist, sie kann die Enge in Frage stellen, die in unserem Geist durch dessen Erregung entsteht.

  1. Christina Feldman ist Lehrerin der Vipassana-Tradition und Mitbegründerin von Gaia-House in England. Sie lehrt Einsichtsmeditation seit 1976 und engagiert sich im Dialog von kognitiven Therapien und Buddhismus. Der englische Text findet sich auf www.dharmaseed.org/teacher/44/talk/21817/20131114. Er ist unter einer Creative Commons 3.0 License verfügbar. Für die Übersetzung: Evamaria Glatz
  2. zu Brahmaviharas s: http://de.wikipedia.org/wiki/Brahmavihara
  3. Der Dhammapada ist eine frühe Anthologie von Aussprüchen des Buddha, s.: http://de.wikipedia.org/wiki/Dhammapada. Eine deutsche Übersetzung findet sich unter: http://www.dhammapada.de/

Texte, die angeregt und gut getan haben:
Ein persönlicher Kommentar zu Winton Higgins‘ Vorträgen

kapfensteinGott ist für mich vor Jahrzehnten gestorben, als ich ungefähr zwanzig war. Wie kommt es also, dass Winton Higgins‘ neue Vorträge über „Die vier Grenzbereiche für säkulare Buddhistinnen und Buddhisten“ mir heute noch so nahe gehen? 1 Gott war übermächtig groß in meiner Kindheit und Jugend, streng und fordernd. Entfernte Ahnungen, es könnte sich bei ihm und der ganzen katholischen Kirche um eine Inszenierung handeln, um uns junge Leute zu reglementieren, konnte ich nicht festhalten. Das kam erst, als ich Teil der „Achtundsechziger“-Rebellion wurde. Da habe ich dann, ganz so, wie im ersten Vortrag skizziert, den wissenschaftlichen Materialismus an die Stelle der Religion gesetzt und so das „gottesförmige Loch“, wie Higgins es nennt, auszufüllen versucht: Dogmen und ihre Absolutheitsansprüche waren mir wohl vertraut. Diese Strategie hat mir lange gute Dienste geleistet, hat mir sowohl zu Einsichten über Politik und Gesellschaft als auch zu gleichgesinnten Freundinnen und Freunden verholfen. Was uns dabei nicht leicht fiel – und das gilt teilweise bis heute – war: wie gehen wir mit Festen um, mit Weihnachten und Ostern, aber auch mit Hochzeiten und Begräbnissen? Was mich betrifft: die Kraft der Religion, in und mit der ich aufgewachsen war, als „kulturelle Praxis“, wie Higgins es nennt, habe ich für lange Zeit – voller Widerspruchsgeist – unterschätzt und daher nur schlecht in mein erwachsenes Leben integrieren können. Ich denke, das hängt mit der Sündenlastigkeit meiner überkommenen Kindheitsreligion zusammen; lange musste ich mich damit auseinandersetzen, immer wieder an irgendetwas schuld zu sein. Da blieb nicht viel Raum, die Freude an festlichen Inszenierungen, die ich in meinem frommen Elternhaus auch mitbekommen habe, auf neue Weise weiter zu kultivieren. In Richard Rorty’s Formulierung – von Higgins zitiert: das Konzept der „Selbstreinigung“ hatte ich mehr als genug verinnerlicht, das der „Selbsterweiterung“ nur unzureichend. Dass ich nicht alles aus meiner religiösen Erziehung in einem Schwung über Bord werfen sollte – für diese Einsicht habe ich lange gebraucht. Als Mitgift habe ich doch bekommen: mich an persönlicher Weiterentwicklung zu freuen, Zufriedenheit mit mir selbst und Selbstgerechtigkeit auseinander halten zu können, und mich lebenslang als „work in progress“ zu verstehen, wie Higgins das nennt. Dass das alles ohne das lähmende Konzept von „Schuld“ viel leichter geht, ist mir Thema lebenslangen Lernens 2.Am Ende rühmt Higgins den „Anfängergeist“; ja, den zu pflegen tut allezeit gut: immer wieder aufzuspüren und wirken zu lassen, was ungewohnt, überraschend und neuartig ist. Lange habe ich an dem folgenden Zitat von Milarepa, einem tibetischen Mönch und Dichter aus dem 11. Jahrhundert, herumgerätselt – mit Winton Higgins‘ Unterstützung kann ich nun ein wenig mehr damit anfangen:

Die Dämonen für Dämonen zu halten, Das ist die Gefahr. Sie als leer zu erkennen, das ist der Weg. Sie zu begreifen als das, was sie sind, Das ist die Befreiung.

  1. nachzulesen unter: „Was ist säkularer Buddhismus?“ auf dieser Website
  2. Musik kann solche Knoten lösen helfen: https://www.youtube.com/watch?v=9s-EvKrXo. Das Motiv des „Balm of Gilead“ stammt aus dem Alten Testament der Bibel; das Lied ist ein traditionelles afro-amerikanisches Spiritual, ein schönes Beispiel für Higgins‘ Feststellung, dass unsere Kultur ohne Kunst, die im Religiösen wurzelt, nicht denkbar ist, und ein Lieblingsstück von mir

Geh den Weg mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit
von Stephen Batchelor

stephen batchelor 4Heute 1 möchte ich über den Begriff care 2 sprechen – vor allem als Bezugsrahmen für unsere Praxis. Sorgfalt und Fürsorglichkeit können uns einen Kontext bieten für alles, was unsere Praxis umfasst.

Bevor wir damit beginnen, möchte ich einige Gedanken über das Wesen von Säkularität präsentieren. Die traditionellen Formen von Religiosität scheinen auch im Buddhismus nicht mehr recht zu passen. Wir finden uns in einer Welt, in der Religion – zumindest in ihren äußeren Ausdrucksformen – sich unangebracht oder verfehlt anfühlt. Die Bewegung des säkularen Buddhismus ist ein Versuch, eine Sprache und eine Form zu finden, uns der Praxis zu verpflichten, und zwar in einem Setting, das nicht von dogmatischen Glaubenssätzen, von einem Machtgefälle zwischen Priestern und Laien und ähnlichem beeinflusst ist. Säkularität mag sich ansprechend anhören, aber wenn wir den Begriff genauer untersuchen, wird es – leider, oder zum Glück? – ein wenig kompliziert.

Charles Taylor, ein kanadischer Philosoph, hat viel über die Bedeutung von Säkularität nachgedacht. Vor ein paar Jahren hat er das Buch A secular age 3 veröffentlicht. Darin versucht er, den Begriff säkular zu klären. Er streicht etwas heraus, was ich sehr hilfreich finde: Säkularität hat damit zu tun, wie wir heute über Zeit denken. Das Wort säkular kommt vom lateinischen saeculum mit der Grundbedeutung dieses Zeitalter – der Begriff ist also verbunden mit unserer gegenwärtigen Zeit. Taylor unterscheidet zwischen säkularer Zeit und höherer Zeit. Die höhere Zeit ist in verschiedenen Formen diejenige Zeit, in der Dinge sich nicht wesentlich verändern. Ein Beispiel: in Korea geht man am Vollmondtag oder am Halbmondtag zum Tempel. Was dort geschieht, ist mehr oder weniger seit hunderten Jahren dasselbe: das gibt es ein vergoldetes Bild des Buddha, wohlbekannte Darstellungen religiöser Geschichten, und die Gesänge werden seit hunderten Jahren in gleicher Weise rezitiert. Jahrestage wie Buddhas Geburtstag oder der Tag seiner Erleuchtung beziehen sich auf eine Zeit, die sich nicht wirklich ändert – es ist ein ewiges Jetzt. Traditionell religiöse Menschen gehen wöchentlich oder monatlich zu einem geweihten Platz, um wieder mit etwas Ewigem, das sich nicht ändert, in Verbindung zu treten und auf diese Weise Zugang zu etwas zu bekommen, das man „höhere Werte“ nennen könnte. Das könnte Rahmenbedingungen schaffen für Inspiration oder Fühlungnahme mit dem, was wirklich wichtig ist; und wenn man ins Alltagsleben zurückkehrt, dann tut man es unter der Perspektive dieser höheren Werte. Im Zuge der globalen Säkularisierung halten Menschen zunehmend diese Art von höherer Zeit für irrelevant oder wenig bedeutungsvoll; sie haben den Kontakt mit ihr verloren und leben ihr Leben in einer Zeit, die einfach nur eine endlose Aufeinanderfolge von Momenten ist. Sehr lebendig sieht man das in Romanen – in heutigen Romanen haben Menschen keinen Zugang zu solch einer höheren Zeit; man wird zum Zeugen und Teilnehmer ihres Leben, wie sie durch säkulare Zeiten gehen.

Was wir hier tun: wir haben zwar besonders intensiv religiöse Aspekte minimiert, aber wir haben ein Bild des Buddha hier, wir haben einen Tagesplan – wir gestalten ein religiöses Ritual in diesem Raum. Menschen fragen manchmal: warum gibt es hier nicht mehr Rituale? Kein Glockenläuten, keine Räucherstäbchen? Aber 45 Minuten bewegungslos auf einem Kissen zu sitzen und dabei bestimmten Vorgaben zu folgen, ist eine hoch ritualisierte Aktivität. Wir haben zwar Teile eliminiert, konzentrieren uns aber auf Hauptelemente von Praxis. Wenn wir sitzen, verlassen wir die säkulare Zeit und kehren zu einer höheren Zeit (in Taylors Sprache) zurück, wobei wir uns mit dem zu verbinden versuchen, was in einem endgültigen Sinn wirklich wichtig ist.

Das lässt sich gut illustrieren, wenn uns den weit verbreiteten Ausdruck säkulare Achtsamkeit ansehen. Die Frage ist: Was ist der Unterschied zwischen einer Person, die Achtsamkeit aus rein säkularen Gründen übt und einer Person, die Achtsamkeit als Teil eines existentiellen Anliegens praktiziert? Nehmen wir etwa einen Menschen, dem ein achtwöchiger Kurs in Achtsamkeit verschrieben worden ist, um einen Rückfall in Depression zu verhindern. Er würde genau dieselben Übungen machen wie wir hier, aber mit einem definierten Ziel, nämlich, einen Rückfall in Depression zu verhindern. Wenn aber dieses Ziel erreicht ist, hat die Meditation ihren Zweck erfüllt, nämlich mehr gesundheitliches Wohlbefinden. Ein Mensch, der genau dieselbe Art von Meditation in einem Retreat-Setting wie diesem macht, wird das tun, nicht um ein bestimmtes Kurzzeit-Ziel zu erreichen – auch wenn das ein Nebeneffekt sein könnte -, sondern um sich in irgendeiner Weise mit der eigenen Existenz zu beschäftigen, wie die Chinesen sagen: den großen Themen von Geburt und Tod. Ich zum Beispiel finde, wenn ich täglich meditiere: manchmal kann das wirklich hoffnungslos sein. Mein Geist ist völlig zerstreut, nicht recht fokussiert, ich fühle mich ruhelos – viele der Erfahrungen, die ihr vielleicht hier macht. Aber seltsamerweise macht das nichts aus. Ich meditiere ja nicht, um irgendein beschreibbares Ergebnis zu erreichen, einen Effekt zu erzielen. Ich tue es auf eine viel kompliziertere Art. Egal warum: ich habe das Vertrauen, oder den Glauben, dass diese Übung – in dieser höheren Zeit zu sitzen – mich irgendwie erneuert, oder mit vielen anderen Werten in Verbindung bringt, die ich hochhalte und nach denen ich leben möchte. In diesem Sinn wird Achtsamkeit etwas ganz anderes als bloß eine Technik zur Erreichung eines bestimmten Zieles.

Eines der Worte, die Buddha gebrauchte, um den Dharma zu beschreiben, ist akaliko. Buchstäblich bedeutet es: zeitlos. Auch das legt nahe, dass die Hauptlehren und die Praxis außerhalb der säkularen Zeit existieren. Sie wurden wiederholt, über Generationen weitergegeben, und was wir hier tun, unterscheidet sich vielleicht nicht allzu sehr von dem, was Leute vor 2000 Jahren getan haben. Mit anderen Worten: diese Anleitungen und Übungen transzendieren in bestimmter Weise unsere Alltagsanliegen und bringen uns mit etwas, was höheren Wert hat, in Verbindung. Gleichzeitig beschreibt Buddha den Dharma auch als sanditiko, und das bedeutet: klar sichtbar. Der Dharma ist also nicht etwas Höheres in dem Sinn, dass er außerhalb unserer temporären Erfahrung läge, sondern er liegt in der Nähe, ist verfügbar und zugänglich. Jedes Mal, wenn unsere gewohnheitsmäßige Reaktivität zur Ruhe zu kommen beginnt, und sei es nur für einige Momente, und wir uns in einem klaren, vielleicht leeren Geisteszustand befinden, in diesem Augenblick erfahren wir den zeitlosen Dharma. Der Dharma existiert nicht außerhalb der säkularen Zeit, sondern wohnt jedem vergehenden Augenblick als eine gegenwärtige Möglichkeit inne. Es gibt also eine gewisse Spannung zwischen unserem säkularen Leben und jenen Momenten in unserem säkularen Leben, in denen wir uns sammeln, auf einem Kissen oder in einem Tempel, oder wo auch immer, und uns mit etwas, was unsere Alltagsgeschäfte übersteigt, wieder in Verbindung setzen. In diesem Sinn ist unsere Praxis eine Art von Gespräch, oder von Auseinandersetzung, zwischen dem, was wir am höchsten wertschätzen, und unserer Anwendung dessen in der Unordnung der Alltagsexistenz. Das ist es eigentlich, was wir unter Praxis verstehen.

Was also ist Praxis? Wir haben jetzt herausgearbeitet und zur Kenntnis genommen, dass wir bei einem Retreat eine Art von geistlichem Raum schaffen und eine Art zeitlich begrenzter Gemeinschaft; gleichzeitig bemühen wir uns um eine Praxis, die wir in unserem Alltagsleben zu hause anwenden wollen. Diese Spannung zu bewältigen wird für die meisten von uns eines der wichtigsten Themen unserer Praxis sein. Das, was es in einer höheren Zeit, in der Zeitlosigkeit gibt: wie setzen wir das um im säkularen Strudel des täglichen Lebens, dem wir auf unvorhersehbare Weise ausgesetzt sind, bei unseren Angelegenheiten, unserer Familie, unserem Job, unserem Innenleben?

04fussabdrueckeelefantundcorinnaIch bin in Buddhas letzter Belehrung vor seinem Tod auf einen Begriff gestoßen, der uns da sehr hilfreich sein kann. Er sagte: die Dinge zerfallen, beschreitet den Pfad mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit. Das ist sein letzter Rat an seine Anhänger. Einerseits anerkennt er die Fragilität des Lebens, dass wir verletzlich sind, dass Dinge nicht von Dauer, dass sie flüchtig sind. Und weil das so ist, sollen wir unseren Pfad im Leben apamadena, mit care, mit Sorgfalt und Fürsorglichkeit, beschreiten. Bei care denke ich hier nicht an ein spezielles Element unserer Praxis; der Begriff umfasst sie in gewisser Weise alle. Um das zu illustrieren, vergleicht Buddha apamada mit dem Fußabdruck eines Elefanten. So wie die Fußabdrücke aller gehenden Lebewesen in den Fußabdruck eines Elefanten passen, bewirkt care, Sorgfalt und Fürsorglichkeit, das Gute in all seinen Formen. Denkt an die Tugenden, die in der Praxis kultiviert werden sollen: Achtsamkeit, Mitgefühl, liebende Güte, Konzentration etc. – Buddha sagt, sie alle sind wie die Fußabdrücke von Tieren, die in den Fußabdruck des Elefanten passen. In weniger metaphorischer Sprache sagt er: alle heilsamen Zustände haben ihre Wurzeln in care und laufen in ihr zusammen. Sorgfalt und Fürsorglichkeit bilden den Raum, der die Gesamtheit all dieser Tugenden oder Fähigkeiten umfasst. Im Englischen hat das Wort care– glücklicherweise – eine hier sehr passende doppelte Bedeutung: we can be careful, and we can be caring – wir können sorgfältig sein, und wir können fürsorglich sein. Ich bin nicht sicher, ob das Pali-Wort all das ausdrückt, aber zumindest der Kontext legt nahe, dass die Praxis dazu da ist, zu üben, sorgfältiger, wachsamer, aufmerksamer zu sein, aber auch fürsorglicher. Es geht um care nicht nur für uns selbst und dafür, was unser Leben sein könnte, und wie wir es leben wollen, sondern auch um Sorge für andere und für die Welt, in der wir leben. Ich habe das Gefühl, dass der Begriff care all dies ausreichend umfasst.

Wir sollten auch festhalten, dass a-pamada, dieses Wort, das ich als care übersetze, in Pali eine negative Bedeutung hat. Pamada bedeutet nachlässig, träge, und oft bedeutet es betrunken. A-pamada ist das Gegenteil davon.

Wie fühlt sich pamada an? Als eine Lebensform außer Kontrolle, als wäre man nicht zuständig für das, was geschieht. Und hier liegt eine fast unvermeidliche Erfahrung, wenn man beginnt, Meditation zu üben. Du bekommst eine sehr einfache Anweisung, zum Beispiel, den Atem zu beobachten. Nichts könnte viel einfacher sein, gleichzeitig könnte nichts viel schwieriger sein, weil wir es mit einem Geist zu tun bekommen, der lieber alles andere täte als sich auf den Atem zu konzentrieren. Und das ist einer der aufschlussreichsten Aspekte von Meditation: dass wir erfahren, wie wenig wir uns unter Kontrolle haben, trotz unserer tief aufrichtigen Motivation. Wir sitzen auf dem Kissen und der Geist dreht durch. Er geht in die Zukunft, in die Vergangenheit; er hat da kein besonderes Anliegen – er wandert einfach herum.

Ein Ausdruck, der in den frühen Texten häufig auftritt, ist asava. Es gibt viele Übersetzungen dafür; buchstäblich bedeutet es Leck, Ausfließen. Das wird recht deutlich, wenn wir in Meditation sitzen und versuchen, unsere Aufmerksamkeit zusammen zu halten, aber anstatt dessen fließt der Geist einfach aus. Buddha spricht davon, wie sinnliche Begierde, oder auch Ansichten und Meinungen, Gedanken und Ideen aus dem Geist ausfließen. Unser Geist ist in gewisser Weise inkontinent. Überprüft das – stimmt es? Ich kann damit etwas anfangen. Shantideva 4 sagt: obwohl ich frei von Leiden sein wollte, laufe ich ihm entgegen als ob es mein liebster Freund wäre. Das ist asava, und damit müssen wir zurechtkommen, wenn wir einfach still sitzen und darauf achten, was geschieht.

Ein besonders gutes Beispiel beschreibt der montaignefranzösische Essayist Michel de Montaigne aus dem 16. Jahrhundert, der sich im Alter von 40 Jahren aus den Geschäften der Welt in einen Turm zurückzog, um dort seinen Geist völligem Müßiggang zu überlassen, gelassen nur mit sich selbst beschäftigt. Soweit seine Phantasie. Was wirklich geschah, beschreibt er so: Mein Geist sauste davon wie ein durchgegangenes Pferd, und machte sich viel mehr Mühe mit sich selbst als jemals zuvor mit irgendetwas anderem. Er produzierte Unmengen von eingebildeten und fantastischen Monstrositäten, eine nach der anderen, ohne jede Ordnung oder Plan. Montaigne ist ein ehrlicher Mann, er kommt immer wieder darauf zurück, wie er da die Unkontrollierbarkeit seines Geistes beobachtet hat. In einem späteren Essay, in dem er sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung macht, schreibt er: Ich kann mein Thema nicht ruhig halten. Es taumelt verwirrt herum in natürlicher Trunkenheit. Er bringt auf den Punkt, was geschieht, wenn man versucht, still zu sitzen. Blaise Pascal 5 sagt Ähnliches: Die größte Quelle menschlichen Leides ist, dass wir unfähig sind, still in einem Raum zu sitzen. Das ist ein ernüchternder Gedanke, aber wir, die wir das eine Weile versucht haben, wissen vielleicht, was er meint.

Das gibt uns vielleicht ein wenig Gefühl dafür, wovon care, Sorgfalt und Fürsorglichkeit, das Gegenteil ist. Pamada, Herumtaumeln in natürlicher Trunkenheit, unfähig sein, still in einem Raum zu sitzen – was wäre das Gegenteil davon? Buddha, Montaigne, Pascal, all diese Leute bestätigen die enorme Herausforderung die es bedeutet, eine Lebensform zu finden, mit dieser natürlichen Trunkenheit umzugehen. Und ihr habt vielleicht die Erfahrung gemacht, dass es nicht viel einfacher wird, wenn man schon eine Anzahl von Jahren meditiert hat. Du kannst Experte in Meditation sein und dennoch durch Zeiten gehen, wo alles verrückt spielt. Es ist nicht etwas, was wir einfach abschalten können, es scheint Teil der menschlichen Natur zu sein. Und die Verfassung, die Buddha, oder auch Montaigne anstreben, ist eine nicht-trunkene, eine, in der wir dieses durchgehende Pferd irgendwie unter Kontrolle gebracht haben. Aber mit dem Wort Kontrolle haben viele von uns wahrscheinlich so ihre Probleme, weil es mit den Begriffen Unterdrückung, Anstrengung mit zusammengebissenen Zähnen, innerer Anspannung, vielleicht sogar einer Form von Selbsthass verwandt ist. Wir wissen, wie leicht religiöse Praxis in eine Art von Selbstbestrafung übergehen kann – davor warnte der Buddha sehr. Aber aus purer Frustration darüber, dass wir nicht imstande sind, still zu sitzen und unseren Geist ruhig zu halten, kann manchmal der Wunsch auftauchen, sich selbst zu bestrafen – ich kenne das. Das ist oft mit Formen intensiver Religiosität verbunden und führt in allen großen Religionen in Extremfällen zu Selbstgeißelung und ähnlichem.

Im Dhammapada 6 heißt es: care ist der Weg zur Todlosigkeit, carelessness ist der Weg zum Tod. Die sorgfältigen und fürsorglichen Menschen sterben nicht, die, die nicht sorgfältig und fürsorglich sind, leben so, als wären sie schon tot. Beim Begriff von care oder dem Gegenteil davon geht es nicht um Bevorzugung einer Sache, die man hat oder nicht hat; für den Buddha scheint es ganz zentral dafür zu sein, was Leben eigentlich bedeutet, voll zu leben; auf eine Weise zu leben, bei der wir nicht durch die Gewalt des Todes eingeschränkt oder festgehalten werden. Das impliziert, dass ein ruheloser Geist nicht wirklich am Leben ist, dass in diesem Zustand die Macht von Mara 7 uns hemmt und davon abhält, voll lebendig zu sein. Es ist also wirklich eine Sache von Leben und Tod. Wenn wir ein volles, gedeihliches Leben führen wollen, müssen wir uns mit dieser Art von innerem Tod auseinandersetzen: dass wir oft getrieben und gezogen werden vom Herumschweifen des Geistes, das uns einmal freudig erregt, ein andermal deprimiert. Es gibt da ein schönes Zitat von Shantideva: Es ist, als wäre ich von einem Bann hypnotisiert: Feinde wie Hass und Gier haben weder Arme noch Beine, sind weder mutig noch weise, wie konnte ich mich von ihnen zum Sklaven machen lassen? Anders gesagt: mit steigendem Bewusstsein realisieren wir, dass wir oft einfach versklavt sind, dass wir manipuliert werden durch Furcht, Hass, Begierde, Intoleranz, Eifersucht, Sorgen, Ängstlichkeit…Und auch wenn wir das Selbstbild eines verantwortungsbewussten Menschen haben – wenn wir innehalten, werden wir oft feststellen, dass wir uns nicht sehr unter Kontrolle haben. Hier sind wir wieder bei dieser Bedeutung von Kontrolle. Es geht da nicht um eine Art von bewusster Selbstbestrafung, sondern darum, den Raum, in dem wir uns befinden, mit dieser Qualität von Sorgfalt und Fürsorglichkeit zu besetzen. Es geht um die Absicht, mehr präsent zu sein, wacher zu sein, genauer zu sein, was unser eigenes inneres Leben betrifft. Es geht darum, einerseits mehr Stille zu entwickeln, indem wir üben, für immer längere Zeit bei einem einzigen Objekt zu bleiben – sei das der Atem, seien das Geräusche, sei das Metta, sei es ein Koan – all diese Praktiken befähigen uns mit der Zeit, eine Art von innerer Stille zu finden, und das ist wichtig. Aber Meditation ist mehr als nur das. Die innere Stille ist, wenn überhaupt, nur der erste Schritt. Wenn wir mehr und mehr Momente der Stille erfahren, erhebt sich die Frage: was tue ich als nächstes? An dieser Stelle bewegt sich die Praxis in Richtung Vipassana: intensives Schauen, Beobachten. Das ist wichtig, weil es uns sensibilisiert für die allerersten Zeichen von Furcht, oder Sorgen, oder was immer daherkommt. Und anstelle sie erstarken zu lassen, bis sie fast unwiderstehlich intensiv werden, lernen wir, sie wahrzunehmen und zu stellen, während sie entstehen. Es geht nicht darum, sie auszumerzen, das wäre nur wieder eine aversive Reaktion, sondern darum, fähig zu sein, zu sagen: okay, das geschieht jetzt. Wir müssen es dann nicht bekämpfen, wir müssen ihm nicht nachgeben, wir können das Spiel des Geistes einfach beobachten, das in diesem Moment z.B. Ängstlichkeit entstehen lässt. Die Praxis der Achtsamkeit besteht darin zu sagen: ja, das geschieht gerade, und es ist völlig okay. Es gibt hier keine Feinde und nichts was in sich selbst eine Ablenkung wäre. Wir können uns ablenken lassen, aber der Gedanke, die Emotion, das Gefühl ist einfach nur ein Gedanke, eine Emotion, ein Gefühl. Wir müssen daraus nicht mehr machen als das, wir müssen es nicht dämonisieren, und uns auch nicht verführen lassen.

meditationskissenmeditationskissen

Das, meine ich, ist ganz nahe beim Innersten dessen, was Buddha mit care meint. Es ist eine Einstellung von Sorgfalt und Fürsorglichkeit. Und man erreicht sie nicht, indem man Wut und Hass und Begierde los wird oder zerstört, sondern lernt, mit ihnen zu leben. Diese Praxis hat nichts mit Zerstörung zu tun. Sorgen und Begehren und Furcht sind einfach natürliche Reaktionen unseres Organismus mit seiner biologischen Vergangenheit, mit seinen psychologischen Gewohnheiten, seinen kulturellen Konditionierungen, die mit der Welt in Kontakt kommen. Das ist in keiner Weise falsch; es ist einfach, was unser Leben in diesem Augenblick tut. Die Herausforderung ist also nicht, in eine Art von Kriegszustand einzutreten, sondern vielmehr fähig zu sein, das, was geschieht, mit Verständnis, Intelligenz, Neugier, vielleicht einem Schuss Ironie anzunehmen. Es geht darum, sich umfassend bewusst zu sein, was vorgeht, voll zu akzeptieren, was sich abspielt, ohne sich darin zu verfangen. Eine Beobachterin zu werden, eine Teilnehmerin, aber nicht ein Opfer dessen, was in uns entsteht. Das klingt nach einer super Idee, ist aber außerordentlich herausfordernd. Diese Reaktionen entstehen sehr schnell – wir lassen uns so leicht von unseren Fantasien davontragen. Achtsamkeit, care, bedeutet, sich bewusst dem zu verpflichten, was immer gerade geschieht, sich weder heftig davon anziehen zu lassen noch es heftig zurück zu weisen, sondern einfach fähig zu sein, dazu zu sagen, ja, das geschieht gerade. Wenn wir uns in diesem Raum niederlassen, lassen wir uns im Raum des Dharma selbst nieder. Diese Qualität des Innehaltens erlaubt uns, eine neue Perspektive auf das Leben selbst zu entwickeln und zu kultivieren.

  1. Diesen Text hat Stephen unter dem Titel „Treading the path with care“ im Juli 2014 während eines Studienretreats im englischen Gaia House vorgetragen; er ist auf www.dharmaseed.org/teacher/169/talk/24385 abrufbar
  2. das Wort ist in seiner Doppelbedeutung nicht übersetzbar; ich werde es hier entweder englisch stehen lassen oder das Wortpaar „Sorgfalt und Fürsorglichkeit“ verwenden, das dem Sinn im Englischen m. E. durch den gemeinsamen Wortstamm noch am nächsten kommt. E.G.
  3. dt.: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009
  4. Shantideva war ein buddhistischer Mönch und Gelehrter im Indien des 8. Jahrhunderts u.Z.
  5. Blaise Pascal war ein französischer Mathematiker und Philosoph des 17. Jahrhunderts
  6. Das Dhammapada ist eine frühe Sammlung von Aussprüchen des Buddha
  7. Mara ist im Buddhismus das Prinzip des Bösen; personifiziert: der Gegenspieler des Buddha

Bettler, Bettlerinnen und ich

Wenn ich durch Wiens winterliche Straßen gehe, bin ich oft in Gedanken, und manchmal trage ich Taschen in den Händen. Da kauert dann so eine Person am Gehsteig oder auf den Stufen zur U-Bahn. Eine Zumutung. Soll ich stehen bleiben? Meine Gedanken unterbrechen, meine Taschen abstellen, nach Münzen suchen – hab ich überhaupt Kleingeld? Wie viel soll ich geben? Besonders peinlich ist es mir, vor den Augen einer Bettlerin herumzukramen. Manchmal geh ich ein paar Schritte weiter, suche einen Euro und kehr damit noch einmal um. Manchmal geh ich vorbei und hab ein schlechtes Gewissen. bettler Was passiert da? Erst einmal: jemand nimmt unerwartet Kontakt mit mir auf. Es kann passieren, dass ich mich gleich einmal in die Defensive gedrängt fühle. Wie ich reagiere, ist da nur zum Teil meine freie Entscheidung. Dann schau ich: ein Mann oder eine Frau? – Frauen kriegen eher was von mir. Wie ist sie gekleidet? Worauf sitzt sie? Ist er/sie mir auf einen kurzen Blick sympathisch? Schwieriger wird es noch, wenn verbal oder nonverbal an mein Mitleid appelliert wird. Dann fange ich leicht zu rechnen an: der will nur Geld von mir – ist er das „wert“? Gehört er vielleicht einer organisierten Gruppe an? Das sind so die Fragen der Europäerin, die erst in den letzten Jahren im Alltag auf Bettler und Bettlerinnen trifft, und die diese noch ungewohnte „Zumutung“ rational zu bewältigen versucht. Ganz schön viel Entscheidungsdruck für eine einfache Bitte! Und Buddhistin bin ich auch, und in dem Fall ist es egal, ob säkular oder nicht. Es geht um Dana, um freiwilliges, absichtsloses Geben. Der Mensch da fordert mich auf, für kurze Zeit mein Herz zu öffnen. Ob er/sie dabei berechnend ist, kann für mich sekundär bleiben. Das „Alles Gute!“, das ich nach einer Gabe meist zu hören bekomme, hört sich manchmal mechanisch an, manchmal sehr freundlich – dann ist es ein Geschenk für mich, und es war eine kleine Begegnung. Ich will in Zukunft für solche Fälle in der Manteltasche Münzen bei mir tragen, um mir das Kramen zu ersparen. Und, wichtiger: wie auch immer ich auf die Frau oder den Mann vor mir reagiere: mir bewusst machen, was ich da tue, und vielleicht auch, warum.

Gemeinsam

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

Rose Ausländer