Stephen Batchelor: Über das Selbst

Wann immer mir bisher während eines Retreats oder beim Lesen der Begriff des „leeren Selbst“ untergekommen ist, blieb er mir fremd – ich konnte damit nichts anfangen. Okay, anatta ist neben anicca, der Unbeständigkeit, und dukkha eines der drei „Daseinsmerkmale“ im Buddhismus, das wusste ich. In der Praxis habe ich um das „leere Selbst“ ein wenig ehrfürchtig, aber doch eher verständnislos einen Bogen gemacht. David Loy schreibt, dass wir Menschen uns aus Geschichten zusammensetzen, und dass wir dabei immer wieder um unser „Selbst“ kreisen – so erschaffen wir unsere Identität 1. Das hat mich nun zum Nachdenken gebracht und ich habe begonnen, darüber nachzulesen und nachzudenken. Worauf ich dabei gestoßen bin, möchte ich in einer kleinen Serie von Beiträgen hier zusammenfassen. Beginnen werde ich mit der teilweisen Übersetzung eines Talks von Stephen Batchelor über das Selbst, bei dem er von Buddhas Lehre vom Mittleren Weg ausgeht 2: stephen batchelor2

Buddhas Lehre vermeidet Sätze wie „Das ist“ und genauso „Das ist nicht“, Zustimmung genauso wie Negation. Wenn wir bewusst wahrnehmen: Dinge entstehen, können wir nicht sagen: „Da ist nichts“, und wenn wir wahrnehmen, dass Dinge vergehen, können wir nicht sagen: „Da ist etwas“. Es geht hier darum, dass die Kategorien von Sprache die fließende, sich verändernde Natur unserer unmittelbaren Erfahrungen nicht fassen können. Die Grammatik unserer Sprachen basiert auf Aussagen wie: „ist“ oder „ist nicht“, sie kann den Rhythmus des Entstehens und Vergehens des Lebens nicht adäquat wiedergeben. Der Mittlere Weg liegt also nicht nur zwischen Genusssucht und Askese, sondern es geht auch um einen Mittleren Weg zwischen „Ist“ und „Ist nicht“. Wenn man auf einer Weltsicht besteht, die auf einem Satz basiert wie: „Das ist die Natur dessen, was ist“, oder aber auf einer Weltsicht: „Grundsätzlich gibt es gar nichts“ endet man in einer Sackgasse. Der Mittlere Weg bedeutet also nicht nur, Extreme zu vermeiden, sondern eigentlich ist es der einzig mögliche Weg – wenn du ihn verpasst, landest du in einer Sackgasse. Der Mittlere Weg ist Ausdruck für die beständige, fließende Lebenserfahrung selbst. Hier liegt die Quelle für den Begriff der Leere. Der Ausdruck Leere als solcher schafft oft mehr Probleme, als er löst. Buddha gebraucht ihn selten. Der Philosoph Nagarjuna, der dieses Konzept weiterentwickelt hat, sagt: Leere ist das Loslassen von Meinungen. Menschen, die an Leere glauben, sind unheilbar. Leere ist eigentlich ein Leeren. Die Idee des Seins loslassen, die Idee des Nichtseins loslassen und sich dem zu überlassen, wie das Leben selbst sich entfaltet. In diesem Prozess gibt es nichts, worauf man sich berufen kann und sagen: Das bin ich wirklich. Das heißt aber nicht, dass ich nicht existiere. Der Mittlere Weg liegt genau dazwischen. Für Buddha ist das Selbst ein Projekt, das zu verwirklichen ist und nicht ein Zustand, der nach Bestätigung oder Ablehnung verlangt. Als der Buddhismus zu einer Religion wurde, entwickelte er orthodoxe Metaphysik. In manchen Schulen wurde es zum Ziel von Meditation, einen Zustand zu erreichen, in dem der Geist mit der Wahrheit der Dinge in Einklang ist. Wenn du dorthin kommst – und die Wahrheit ist dann, was orthodoxe Schulen als solche entwickeln – dann bist du erleuchtet. Ich halte das für einen großen Fehler. Ich glaube nicht, dass Buddha daran interessiert ist, die Natur von Wahrheit herauszuarbeiten. Er ist daran interessiert, eine Lebensform zu entwickeln, die jeden Wahrheitsanspruch vermeidet. Er will uns dazu verhelfen, unsere Erfahrungswelt durch Handeln zu öffnen. Von daher können wir viel besser verstehen, was er mit „Selbst“ meint. Buddha illustriert dieses Verständnis sehr schön in Vers 80 des Dhammapada:

Wie ein Bauer sein Feld bewässert, wie ein Pfeilmacher einen Pfeil formt, wie ein Tischler ein Stück Holz bearbeitet, so zähmt der Weise das Selbst.

Wir sind wie ein Feld, wie ein Pfeil, wie ein Holzstück, und unsere Aufgabe mit dem Selbst ist, es zu bewässern, es zu formen, es zu bearbeiten.

  1. s. der Blog-Eintrag darüber: Die Welt besteht aus Geschichten
  2. http://www.dharmaseed.org/teacher/169/?search=self . Übersetzung mit Zustimmung des Autors: Evamaria Glatz

Säkulare Geschwister I: Lloyd Geering

Immer wieder spricht Stephen Batchelor davon, wie viel säkularer Buddhismus christlichen Theologen verdanke, die schon vor Jahrzehnten neue Zugänge zu ihrer Religion eröffnet haben. Die Lektüre von Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer habe ihn angeregt; unter unseren Zeitgenossen schätzt er Lloyd Geering sehr.Lloyd Geering Bei uns kaum bekannt, ist Geering, heute 97 Jahre alt, in seiner Heimat Neuseeland eine Art Ikone. Nach seiner Ausbildung zum presbyterianischen Geistlichen hat er mehrere Jahre lang diesen Beruf ausgeübt. In seinen Predigten versuchte er, das Leben Jesu, wie es in der Bibel erzählt wird, als Basis für ein christliches Leben zu präsentieren. „Gott“ war und blieb für ihn vor allem der symbolische Begriff für das ultimative Mysterium des Leben, wie er sagt 1. Er wurde später akademischer Lehrer; anfangs untersuchte er vor allem die Texte des Alten Testaments und interpretierte Entstehung und Inhalte aus dem historischen Kontext ihrer Entstehungszeit – das war bereits in den 1950er Jahren. Er begann, diese Sichtweise auch auf die Evangelien des Neuen Testaments anzuwenden und die Bibel nicht als unveränderliches Gotteswort, als nicht frei von Fehlern und in ihrer Entstehungszeit verwurzelt zu sehen. Er ging an die Texte aus unserer gegenwärtigen Weltsicht und mit gesundem Menschenverstand heran und gelangte bald zu der Frage: in welchen Himmel ist Jesus denn aufgestiegen? Geering begann, die Buchstäblichkeit der körperlichen Auferstehung in Frage zu stellen, und bald darauf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, wobei er darauf hinwies, dass diese Idee nicht aus der Bibel, sondern von griechischen Philosophen, vor allem von Platon stamme, während im Neuen Testament zu lesen sei: nur Gott ist unsterblich. Geering bedient sich einer leicht verständlichen Sprache und so wurden seine Texte auch über akademische Kreise hinaus rezipiert. In Neuseeland und darüber hinaus im englischen Sprachraum brachen in der Folge Stürme kirchlicher und öffentlicher Entrüstung los. Im Jahr 1967 strengten Hardliner ein kirchenrechtliches Verfahren wegen Häresie gegen ihn an, das allerdings schnell niedergeschlagen wurde. Da seine als ketzerisch angefeindete Aussagen zwar im Widerspruch zu kirchlichen Dogmen, aber nicht zum Stand theologischer Forschung standen, konnte er seine akademische Laufbahn als Universitätsprofessor für (inter)religiöse Studien fortsetzen. Dabei hat er nichts gelehrt, was unter Wissenschaftern nicht schon längst Allgemeingut gewesen wäre. Der Himmel ist für ihn kein Ort, sondern ein Zustand. Auferstehung bedeutet für ihn das Fortleben der Lehre Jesus. Maria ist für ihn keine Jungfrau und Jesus nicht buchstäblich der Sohn Gottes. Mit dem Begriff „Gott“ hat er sich viel beschäftigt. In dem oben erwähnten Interview sagt er:

Im Gespräch über Gott geht es um die tiefste Wirklichkeit, mit der wir uns konfrontieren können. Es geht darum, was uns am meisten betrifft – und wir wissen nicht, was das ist. Der bekannte Gott ist ein Idol. Der Gott, der definiert werden kann, ist kein Gott.

Geering hält es mit dem von ihm hochgeschätzten Pierre Teilhard de Chardin 2. In dem erwähnten Interview sagt Geering über Teilhards Gottesverständnis:

Gott sollte nicht so sehr als der Schöpfer der Welt gesehen werden, und auch nicht als die Ursache für den evolutionären Prozess. Dieser Prozess selbst, das sich entwickelnde Universum, ist (für Teilhard, E.G.) das letzte Mysterium, das Gott genannt werden kann.

Im Jahr 1980 veröffentlichte Geering das Buch„Faith’s New Age“, in dem er von der Feststellung ausgeht, dass die menschliche Kultur sich heute erheblich von jener unterscheidet, die vorherrschte, als die großen Religionen gegründet wurden. Dieser Veränderung geht er vom späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nach und entwickelt dabei ein Modell dreier aufeinanderfolgender kultureller Perioden: Die erste Periode nennt er die „ethnische Phase“, während der sich viele voneinander unabhängige Kulturen aus ihrer ethnischen Identität entwickelten. Zwischen Religion und Kultur, zwischen Moral und Ritual wurde noch nicht unterschieden. Die Menschen lebten in einer von Göttern und Geistern kontrollierten Welt, die für sie Personifizierungen der Kräfte der Natur waren. Man musste ihnen gehorchen und sie gnädig stimmen. In der zweiten, der nach Geering „trans-ethnischen Phase“ trat die ethnische Identität in den Hintergrund. Religion und Kultur, Ritual und Moral wurden nun voneinander unterschieden. Drei religiöse Traditionen überschritten am erfolgreichsten kulturelle und ethnische Grenzen: Buddhismus, Christentum und Islam; bis zum Jahr 1900 war die Welt zwischen ihnen in den buddhistischen Orient, den islamischen Mittleren Osten und den christlichen Westen aufgeteilt. Aber schon vor 1900 war eine dritte Periode kultureller Evolution entstanden: Geering nennt sie die „globale und humanistische Phase“, die weder von Polytheismus noch von Theologie geprägt ist. Diese moderne Kultur verbreitet sich nun auf dem Globus – zum großen Verdruss der alten Religionen, deren traditionelle Formen sie untergräbt. Daher entstehen reaktionäre religiöse Bewegungen, die die Flut der dritten kulturellen Phase aufhalten wollen – wir kennen sie unter anderen als christlichen, muslimischen, hinduistischen Fundamentalismus. Während traditionelle religiöse Formen in der modernen Welt in Bedeutungslosigkeit versinken, eröffnen sich gleichzeitig neue Perspektiven dafür, was es heißt, religiös zu sein. Religiöses Denken und Handeln muss sich nun an dieser Welt ausrichten und nicht an einem späteren Jenseits. Daher kann Religion in dieser dritten Phase säkular genannt werden, so Geering. In diesem neuen kulturellen Zeitalter werden wir uns dessen bewusst, dass wir alle, unabhängig von Klasse, Rasse, Geschlecht, Religion oder Alter, Menschen sind. Wir entwickeln wachsendes Interesse an den Menschenrechten. Wir haben festgestellt, dass das, was für göttlich oder transzendent gehalten wurde, nichts anderes als menschliche Einschätzungen unserer Vorfahren in der Vergangenheit waren. In einem späteren Buch schreibt Geering darüber, dass das Königreich Gottes, von dem Jesus sprach, gekommen sei 3, ohne dass wir es bemerkt hätten: in der Sklavenbefreiung, der Emanzipation von Frauen aus männlicher Dominanz, der Anerkennung der Menschenrechte, der Akzeptanz der Rechte Homosexueller. Und für diese Entwicklung gäbe es ausreichend Material in den Worten Jesu, um uns zu helfen und für die Zukunft zu inspirieren. Während seines Lebens in einer sich laufend ändernden Welt habe er, Geering, herausgefunden, dass Vieles, was er aus der Geschichte des Christentums gelernt habe, ihm heute unerwarteterweise in neuem Licht erscheine. Und er zitiert dazu den christlichen Mystiker aus dem Mittelalter, Meister Eckhart:

Soll Gott gesehen werden, so muß es in einem Lichte geschehen, das Gott selbst ist.

  1. In einem informativen Radiointerview aus dem Jahr 2003 spricht er ausführlich über seine persönliche und akademische Entwicklungsgeschichte: http://www.abc.net.au/religion/stories/s1333339.htm. http://en.wikipedia.org/wiki/Lloyd_Geering gibt einen Überblick über sein Leben, seine Arbeiten und sein Wirken. Auf youTube gibt es zahlreiche Videos mit Geering in englischer Sprache.
  2. Näheres über diesen französischen Naturwissenschafter und katholischen Theologen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Teilhard_de_Chardin
  3. Mir ist klar, dass dieser Satz angesichts des Zustands unserer Welt schwer zu verdauen ist. soldes coque iphone Ich würde Geering so interpretieren: Wir Menschen haben uns Handwerkszeug geschaffen, an diesem Königreich zu arbeiten. Dessen können und sollen wir uns bedienen. E.G.

Wie bin ich denn? So – oder doch vielleicht anders?
Wie unser Selbstbild unser Leben beeinflusst. 2. Teil
von Victor von der Heyde

Victor-smHier nun der zweiter Teil von Victor von der Heydes Vorschlägen unter dem Titel „Honouring our empty selves“1:

Wie kommen wir also zu einem genaueren Bild von uns selbst? Wie machen wir das? Wir können es beim Sitzen zum Thema machen, es geht aber auch in einer Art Betrachtung. Drei Vorschläge: Du kannst aufschreiben, wie du dich in bestimmten Bereichen siehst: als Kind deiner Eltern, als gesellschaftlich aktiver Mensch, in bezug auf dein Aussehen, in deinem Verhalten in Beziehungen…schreib möglichst unzensuriert auf, was dir da so in den Sinn kommt. Lass es Revue passieren, sodass du danach langsam in jedem einzelnen dieser Bereiche darüber reflektieren kannst – sei deine Sicht positiv oder negativ. Und wenn deine Sicht negativ ist, kannst du versuchen, sie dir in einfühlsamer Haltung nochmals deutlich zu machen. Auf diese Weise kannst du Bereiche deines Selbstbilds aufdecken, die dir normalerweise wenig zugänglich sind. Es geht dabei nicht nur darum, dich positiver zu sehen, sondern auch darum, wie sich deine Sichtweise von Situation zu Situation je nach deinem inneren Zugang ändert. Eine zweite Möglichkeit: die japanische Technik des Naikan 2. Das ist eine sehr ergiebige Praxis von drei Fragen, die auf unterschiedliche Weise geübt werden kann. Eine Möglichkeit wäre, dich zu fragen: Was habe ich in den letzten 24 Stunden von der Welt bekommen? Das kann alles mögliche sein: Elektrizität, Benzin, ein Fahrrad, Essen vom Markt, ein Lächeln, ein Gespräch mit einer Freundin…du kannst da durchaus ins Detail gehen. Zweite Frage: Was habe ich in diesem Zeitraum der Welt gegeben? Dritte Frage: Welche Probleme, welche Schwierigkeiten habe ich in den letzten 24 Stunden verursacht? Das ist oft nicht einfach, kann auch nur eine Kleinigkeit sein. Diese Praxis kann deinen Blick für deine Stellung in der Welt schärfen. Manche Leute stellen dann fest, wieviel sie bekommen im Vergleich mit dem, was sie geben – das kann zu mehr Wertschätzung der Umwelt führen. Und wiederum: die Wertschätzung ergibt sich aus einer bestimmten Art, sich selbst anzuschauen. Eine dritte Möglichkeit: Was kommt hoch, wenn du ohne Vorgaben über dich selbst nachdenkst? Vielleicht siehst du dich als eine normalerweise recht freundliche Person, oder als klug, oder zufrieden, oder gutaussehend, oder irgendetwas anderes. Es kann hilfreich sein, das niederzuschreiben. In einem späteren Schritt forschst du nach Situationen, in denen das Gegenteil zugetroffen hat. Du hast da also eine Geschichte über dich – das ist vielleicht eine gute Geschichte, aber ist es die ganze Geschichte? Gibt es eine andere Seite? Vielleicht verfeinert sich deine Sicht auf dich selbst ein wenig. Wenn wir uns selbst betrachten, nehmen wir vor allem das wahr, was in unser bisheriges Selbstbild passt. Mit dieser Technik suchen wir bewusst das Gegenteil. Vielleicht siehst du auch hier, dass das, was du siehst, davon abhängt, mit welcher Absicht du schaust. Wir haben Bilder von uns selbst, an denen wir festhalten, und wir tun das manchmal zu sehr. Es geht also darum, diesen Griff zu lockern. Diese Bilder hängen oft von unserer Sichtweise ab. Wenn es uns gelingt, Einfluss auf unsere Selbstbilder zu nehmen, können wir für sie vielleicht einen respektvolleren Bezugsrahmen schaffen und positive Qualitäten, Anstrengungen und Absichten in uns eher gelten lassen. a_Buddha-AusrittIhr kennt die Legende von Buddha. In einer westlichen Version hätte Buddha sagen können: mein Leben war schwierig. Ich hatte einen Vater, der mich massiv kontrollierte, mich nicht aus dem Haus ließ, hohe Erwartungen wurden an mich gestellt, ich hatte keine Mutter und wurde von einer Stiefmutter aufgezogen.Nachdem ich mein Heim verlassen hatte, fixierte ich mich auf Tod und Leiden und geriet an Freunde, mit denen ich mich fast zu Tode hungerte – das war alles wirklich schwierig. Buddha hat diesen Rahmen für sein Selbstbild nicht gebraucht. Sein positiv gefärbter Rahmen war: ich bin auf ernsthafter, edler Suche.

  1. nachzuhören unter www.dharma.org.au/v
  2. für eine erste Information: https://de.wikipedia.org/wiki/Naikan

Was es ist

Es ist Unsinn sagt die Vernunft

Es ist, was es ist sagt die Liebe

Es ist Unglück sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst

Es ist aussichtslos sagt die Einsicht

Es ist, was es ist, sagt die Liebe

Es ist lächerlich sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich sagt die Erfahrung

Es ist, was es ist, sagt die Liebe.

Erich Fried

Hinspüren, Nachdenken, Schweigen
Ein Studienretreat mit Martine und Stephen Batchelor

thumbs_sh111030-060-scheibbsursulaVor ein paar Tagen waren die beiden wieder im niederösterreichischen Scheibbs zu Gast. Das Haus war voll, fast 40 TeilnehmerInnen aus Österreich, Italien, England, Schweden, Polen, Frankreich, Deutschland waren angereist gekommen, um sie zu hören. Von Anfang an herrschte eine gesammelte Atmosphäre, die die Mitte zwischen Anspannung und Entspannung hielt; zu schweigen fiel uns nicht schwer. Die wenigen Gruppen-Regeln wurden unaufgeregt vorgegeben und eingehalten. Martine betonte mehrmals, wir sollten aus ihren Angeboten von Meditationsformen auswählen, was für uns geeignet sei, und auch bei der Sitzposition gut auf unsere persönlichen körperlichen Möglichkeiten achten und uns nicht überanstrengen. Beide sprachen täglich eine Stunde lang zu uns, wobei Stephen am Vormittag Elemente seiner Studien von Texten aus dem Pali-Kanon 1 präsentierte, während Martine uns abends vor allem Inhalte und Praxis von Meditation nahe brachte. Beides kann ich nicht im Ganzen wiedergeben, aber hier folgen ein paar Bruchstücke aus meiner Mitschrift 2. martine Martine leitete uns in Meditation an, sie schlug verschiedene Techniken wie Atemmeditation, inneres Fragen und Körperwahrnehmung vor, denen gemeinsam sei, einen Zustand von weit offenem Gewahrsein anzustreben. Immer wieder hat sie darauf hingewiesen, dass jede/r selber herausfinden müsse, welche Form in welcher Situation für sie oder ihn persönlich geeignet sei:

Welche der vielen verschiedenen Meditationstechniken du gebrauchst, ist nicht die Hauptsache. Es geht immer um das Kultivieren von Samatha und Vipassana: sich im Augenblick zu verankern und Einsicht zu gewinnen, wie die Dinge wirklich sind. Der Zustand von Sati, von Achtsamkeit, bedeutet nicht, auf die Wirklichkeit zu starren. Er bedeutet, fürsorglich mit sich und anderen zu sein, harmlos und geistesgegenwärtig. Es geht darum, Hindernisse aufzulösen, die unser kreatives Potential blockieren. Vedanas, Empfindungen, die positiv, negativ oder neutral sein können, entstehen unausweichlich als Folgen unserer Sinneswahrnehmungen. In der Meditation geht es darum, sie sich bewusst zu machen und an keiner festzuhalten. Das macht kreatives Engagement möglich. Durch Meditation können so Offenheit und Freude entstehen.

Martine hat ihre Talks mit sehr lebensnahen Beispielen illustriert, in denen sie – ohne in Details zu gehen – aus persönlichen Erfahrungen ihre Schlüsse für uns zog. Wie kann man in beunruhigenden Situationen durch Bewusstmachen Ruhe bewahren? Wie kann frau ihre Selbst-Akzeptanz stärken, wenn sie in Gefahr ist, sich übertrieben zu kritisieren? Und, schließlich: wie kann man nach einem intensiven Retreat seine Meditationspraxis aufrechterhalten und stärken? stephenStephen betonte, dass Praxis und Studium nicht getrennt werden könnten und erklärte so das Design des Studienretreats. Der Pali-Kanon enthalte viel reiches Material, das von den buddhistischen Orthodoxien nicht aufgegriffen worden sei – manches davon stehe im Widerspruch zu ihnen. Das interessiere ihn besonders. Er ging vom Thema der Todlosigkeit aus, die er ein Äquivalent zur christlichen Erlösung nennt:

In einer Lehrrede geht es um 21 Laien aus Buddhas Anhängerschaft 3, die Todlosigkeit erkannt und Erfüllung erreicht hätten; so gingen sie durchs Leben, in vollkommenem Vertrauen auf Buddha, Dharma und Sangha. Der Dharma sei für sie klar sichtbar geworden, unmittelbar, erhebend, einladend und er könne von weisen Menschen wie ihnen persönlich erfahren werden. Diese heute weitgehend unbekannten Männer waren in der neuen städtischen Gesellschaft, die sich zu Buddhas Zeit gerade entwickelte, in verschiedenen Berufen tätig, sie waren keine Mönche. Buddha richtete seine Lehrreden oft an Menschen wie sie; er sagte ja von sich, er sei kein Lehrer mit geschlossener Faust – er meinte damit, dass er nichts für Eingeweihte zurückhalte. Darin, dass diese Männer die Todlosigkeit erkannt haben, liegt also Hoffnung für uns Laien. Was kann mit Todlosigkeit gemeint sein, da Buddha ja das Konzept einer unsterblichen Seele ablehnte? Nach seinen Worten bedeutet sie das Ende von Gier, Hass und Verblendung. Diese werden als reaktive Muster von Empfindungen des Vergnügens, der Unlust oder der Langeweile ausgelöst. Orthodoxen buddhistischen Schulen entsprechend müssten sie eliminiert werden. Sie sind aber tief in uns verwurzelt. Achtsamkeit zu üben bedeutet, sie zu akzeptieren. Und hier liegt der Schlüssel zur Todlosigkeit: sie ist ein Geisteszustand ohne reaktive Muster, nicht getrieben, sondern voll innerer Freiheit, in jedem Augenblick zugänglich. Es ist das, was wir in der Meditation üben – die Erfahrung jener Momente zu stärken, in denen wir nicht abhängig sind, sondern uns im Fluss des Geschehens bewegen. Das ist gemeint mit: in den Strom eintauchen. Todlosigkeit ist für Buddha eng mit dem Körper verbunden: er ist die Basis, die uns unsere Lebendigkeit empfinden lässt. Wer sich der Todlosigkeit erfreut, erfreut sich der Achtsamkeit für seinen Körper. Meditation beginnt für Buddha im Körper. Und sie bedeutet, uns bewusst zu machen, dass nicht nur Gier, Hass und Verblendung in uns sind. Solange wir am Leben sind, entgehen wir Dukkha, der conditio humana, nicht. Gier und Hass sind tief in uns verwurzelt. In der Geschichte der Menschheit waren sie erfolgreiche Mittel, um ihr Überleben zu sichern. Religionen, Moral- und Rechtsvorschriften dienen dazu, sie unter Kontrolle zu halten. Dabei besteht für alle Religionen die Gefahr der Entfremdung von ihren ursprünglichen Zielen, wenn sie sich mit Vertretern der Macht einlassen. Ich halte das für den Koan unserer Zeit: kultivieren wir unser inneres Leben oder engagieren wir uns in der Welt? Retreats können uns für die Aufgabe stärken, uns nachdrücklich für Ziele einzusetzen. Wenn wir diese Dichotomie zwischen Kontemplation und Aktivität überwinden, eröffnet sich ein neuer Raum und wir können die Erfahrung von Ganzheit neu entwickeln. Meditation ist keine Technik, sondern bedeutet, Sensibilität zu entwickeln. Wir brauchen Disziplin und Praxis, um uns für die Welt zu öffnen. Dazu gehört radikale Selbst-Akzeptanz und gleichzeitig das Durchbrechen der Obsession, „Ich, Mich und Mein“ wären Angelpunkte der Welt. Dann entstehen Fürsorglichkeit und Engagement für andere Menschen. Wir sollten für uns selbst eine Insel sein, wie Buddha es kurz vor seinem Tod formuliert hat, und nirgends sonst Zuflucht suchen. Ziel unserer Praxis sind Unabhängigkeit und Autonomie. Gleichzeitig gilt: in der Gemeinschaft sollen wir Zuflucht nehmen. Der Unterschied zwischen Kollektiv und Gemeinschaft liegt darin, dass dort Konformität auf Kosten der Autonomie gefragt ist, während hier jedes Mitglied die Individuation jedes anderen Mitglieds fördert. So gesehen besteht da kein Widerspruch.

All das zu hören und aufzunehmen war intensiv, erfrischend und anregend. Ich möchte ein paar Gedanken und Empfindungen anfügen, die bei mir entstanden sind. Es gibt den Modus „Pfeil“ im Leben, wenn es um das Erreichen von Zielen geht. Er führt leicht in Hast und Schärfe. Und es gibt den manchmal entgegengesetzten, manchmal komplementären Modus „Kreislauf“: Dinge entstehen und vergehen ohne Zutun; es ist möglich, dem achtsam zu folgen. Ohne das Anstreben von Zielen geht es nicht, die Kunst ist aber, immer wieder auf „Kreislauf“ umzuschalten. Dafür sitze ich im Retreat. Als Kind habe ich so gern den Wolken zugesehen. Ich möchte mich diesem stillen Zustand wieder annähern, den ich genossen habe, auch wenn meine Mutter mich dann gescholten hat, ich sei faul. An guten Tagen kann Meditation eine große Freude sein: sich dem Fluss der Dinge überlassen. Gleichzeitig mit der Wahrnehmung öffnet sich das Herz. Mit der Sitzposition habe ich, ermutigt durch Martines Anleitungen und ihr Vorbild (sie selbst sitzt auf einem Sessel) experimentiert, um eine gleichzeitig gesammelte und entspannte Haltung zu finden. Wie bei früheren Retreats habe ich erfahren, wie das „Ich-Mich-Mein“ manchmal in den Hintergrund tritt und sich auch wieder mal vordrängt, während ich mich unter den anderen bewege.   Unsere Gruppe, die diese Website betreibt, konnte ein freundschaftliches Gespräch mit Stephen und Martine führen, das uns ermutigt hat. Am Ende des Retreats haben wir uns und unsere Arbeit allen Anwesenden vorgestellt und von dem Peer-Retreat in Scheibbs erzählt, das wir für 2.-5. Oktober 2014 vorbereiten. Martine und Stephen Batchelor werden von 24.- 28. Juni 2015 wieder nach Österreich kommen. Näheres dazu auf der Seite „Veranstaltungen“.

  1. Der Pali-Kanon ist die in der Sprache Pali verfasste, älteste zusammenhängend überlieferte Sammlung von Lehrreden Buddhas
  2. Dabei habe ich die direkte, persönliche Rede der beiden teilweise beibehalten. Wer zusammenhängende Texte sucht, findet einiges auf dieser Website. Damit sind vor allem gemeint: die Seite mit Stephens Artikel: Was ist saekularer Buddhismus?, die Seite Meditation, die vor allem auf Martines Buch zu diesem Thema basiert, die Blog-Einträge über Stephens Text: Nach dem Buddhismus, sowie über Martines Talks Die Gelübde des Bodhisattvas und Die vier Phasen des Loslassens
  3. Aṇguttara Nikāya 6.119-139

Albert Camus

albert camus aus seinen Texten: Die einzige Angst, die mich bedrückt, ist das Gefühl, dass dieser ungreifbare Augenblick mir durch die Finger rinnt wie Quecksilberperlen. Kümmert euch doch nicht um die Leute, die sich von der Welt abkehren wollen. Ich kann sagen, dass es einzig darauf ankommt, menschlich zu sein, einfach. Nein, es kommt darauf an, wahr zu sein, und dann ergibt sich alles von selber, die Menschlichkeit und die Einfachheit. Und wann bin ich wahrer und lauterer, als wenn ich die Welt bin? Man vermeint, von der Welt geschieden zu sein, aber es genügt, dass ein Olivenbaum im goldenen Staub aufragt, es genügt, dass ein paar Flecken Strand in der Morgensonne aufblitzen, damit man diesen Widerstand in sich dahinschmelzen fühlt. So ergeht es mir. Ich werde mir der Möglichkeiten bewusst, für die ich verantwortlich bin. Jede Minute des Lebens trägt in sich ihren Wert als Wunder und ihr Gesicht ewiger Jugend. Das Leben ist kurz und seine Zeit zu verlieren ist eine Sünde. Frage: was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: sie in ihrer ganzen Länge empfinden. Mittel: Tage im Wartezimmer eines Zahnarztes auf einem unbequemen Stuhl verbringen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verleben; sich Vorträge in einer Sprache anhören, die man nicht versteht; die längsten und am wenigsten bequemen Eisenbahnverbindungen aussuchen und natürlich stehend reisen; an der Theaterkasse Schlange stehen und dann seine Karte nicht benutzen… Die Menschen waren wie umherirrende Schatten, die nur zu Kräften hätten kommen können, wenn sie bereit gewesen wären, im Boden ihres Schmerzes Wurzeln zu schlagen. Der wahre Mut besteht immer noch darin, die Augen weder vor dem Licht noch vor dem Tod zu verschließen. Ich hänge an der Welt mit meinem ganzen Tun, an den Menschen mit meinem ganzen Mitleid und meiner Dankbarkeit. Zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt will ich nicht wählen.

Einen Menschen zu besiegen ist ebenso bitter wie von ihm besiegt zu werden.

Es ist ein Missgeschick, wenn man nicht geliebt wird. Aber es ist ein Unglück, wenn man nicht liebt.

Was kann ein Mensch sich Besseres wünschen als Armut? Ich habe nicht Elend gesagt und rede auch nicht von der hoffnungslosen Arbeit des modernen Proletariers. Aber ich sehe nicht, was man sich mehr wünschen kann als mit tätiger Muße verbundene Armut.

…sich überall zuhause zu fühlen, weil er sich kein Zuhause wünschte, sondern nur Freude, freie Menschen, Kraft und alles, was das Leben an Gutem, Geheimnisvollen und dem hat, was man nicht kaufen kann und nie wird kaufen können. Er bereitete sich durch die Armut darauf vor, eines Tages imstande zu sein, Geld zu bekommen, ohne je darum gebeten zu haben und ohne je darauf angewiesen zu sein.

 

Es passiert in der Geschichte immer wieder, dass derjenige, der zu sagen wagt, dass zwei und zwei vier sind, mit dem Tode bestraft wird. Es darf aber nicht darum gehen, welche Belohnung oder Bestrafung ich für meine Aussage bekomme. Es geht einzig und allein darum, festzustellen, ob zwei und zwei vier sind oder nicht.

Es ist das Leben, weniger die Ideologie, die zum Kommunismus führt….Ich wünsche so sehr, dass die Summe an Unglück und Bitterkeit, die die Menschen vergiftet, verringert wird.

Gibt es eine Partei der Leute, die nicht sicher sind, recht zu haben? Bei der bin ich Mitglied.

Das Böse in der Welt geht fast immer von Unwissenheit aus, und der gute Wille kann ebenso viel Schaden anrichten wie Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als böse, aber sie sind mehr oder weniger unwissend, und das nennt man dann Tugend oder Laster, wobei das hoffnungsloseste Laster das der Unwissenheit ist. Die Seele des Mörders ist blind, und es gibt keine wirkliche Güte oder wahre Liebe ohne die größtmögliche Klarsichtigkeit.

Es gibt auf dieser Welt Plagen und Opfer, und man muss sich, soweit wie möglich, weigern, auf Seiten der Plagen zu sein.

Kann man ein Heiliger ohne Gott sein? Das ist das einzige konkrete Problem, das ich heute kenne.

Man müsste den Glauben heidnisch und Christus griechisch machen.

Sisyphus findet, dass alles gut ist. Er lehrt uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt.

Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und Sterbens. Wir müssen der Gerechtigkeit dienen, weil unser Wesen ungerecht ist, das Glück und die Freude fördern, weil diese Welt unglücklich ist.

 

Die Dämmerung drang wie graues Wasser in das Lokal, das Rosa des Abendhimmels spiegelte sich in den Scheiben, und die Marmorplatten der Tische schimmerten schwach in der einsetzenden Dunkelheit.

Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter. Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne. Ich bin mit Sternen über dem Gesicht wach geworden. Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nach Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut. Angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne öffnete ich mich zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt. Ich liebe dieses Leben von ganzem Herzen und will frei von ihm reden: Ich danke ihm den Stolz, ein Mensch zu sein. Worauf? Auf diese Sonne und dieses Meer, auf mein von Jugend überströmendes Herz, auf meinen salzigen Leib und diese unermessliche Pracht aus Glanz und Glück, aus Gelb und Blau. Ich muss all meine Kräfte aufbieten, um dieser Fülle standzuhalten. Alles hier lässt mich gelten, wie ich bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske: Es genügt mir, dass ich, geduldig wie eine schwierige Wissenschaft, die so viel wichtiger ist als all die Lebenskunst der andern, lerne: zu leben.   Ja, es gibt die Schönheit, und es gibt die gedemütigten Menschen. Wie schwierig das auch sein mag, ich möchte keiner dieser beiden Seiten jemals untreu sein. Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. Die Welt ist schön, und außer ihr gibt es keine Rettung. Sie trägt mich bis ans Ende. Sie verneint mich ohne Zorn. Die Schriftsteller waren immer auf der Seite des Lebens – gegen den Tod. Wo wäre die Würde dieses lächerlichen Berufs, wenn nicht in der unablässigen Fürsprache für die Sache des Menschen und des Glücks? Die wahren Künstler betrachten nichts mit Verachtung. Sie bemühen sich zu verstehen, nicht zu richten. Und wenn sie in der Welt Stellung zu beziehen haben, so können sie sich nur für eine Gesellschaft entscheiden, in der nach Nietzsches großem Wort nicht mehr der Richter herrschen wird sondern der Schaffende, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller.

Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance.

Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, alles der Gegenwart zu geben. Die größte Ersparnis, die sich im Bereich des Denkens erzielen lässt, besteht darin, die Nicht-Verstehbarkeit der Welt hinzunehmen – und sich um den Menschen zu kümmern.

Seine Grundsätze sollte man sich für die großen Gelegenheiten sparen, für die kleinen genügt Erbarmen.

Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, toll gewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der Mächte ohne Größe heute wohl alles zu zerstören, aber niemand mehr zu überzeugen vermögen, sieht diese Generation sich vor die Aufgabe gestellt, in sich und um sich ein weniges von dem, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht, wiederherzustellen.   …jene starke dunkle Kraft, die ihn so viele Jahre über die Tage getragen, möge ihm mit der gleichen rastlosen Großzügigkeit, mit der sie ihm Gründe zu leben gegeben hatte, Gründe dafür liefern, alt zu werden und ohne Aufbegehren zu sterben. __________________________________________________________________________ Albert Camus wäre im vergangenen Jahr hundert Jahre alt geworden 1 Er dachte darüber nach, wie wir mit der Zeit umgehen sollten. Er liebte seine Heimat Algerien, die Sonne, das Meer, die Olivenbäume… Er kannte Armut und vergaß das nicht, ohne sie zu verleugnen oder zu verherrlichen. Er leugnete Gott und alle Götter. Er liebte die Menschen und stand auf der Seite der Armen. Er wandte sich gegen politische Systeme und Ideologien. Er weigerte sich, Partei zu beziehen und trat für Gewaltlosigkeit ein. Er wusste Bescheid darüber, dass Freude nicht ohne Schmerz zu haben ist. Er sprach darüber, wie Menschen an der Welt Raubbau treiben. Er fand sich nicht ab, dachte nach und suchte immer einen eigenen Weg. Er baute auf Freundschaft. Er war ein skeptischer Denker, und ein großer Stilist. Dass seine sterblichen Überreste mehr als 50 Jahre nach seinem Tod aus dem südfranzösischen Dorf, in dem er zuletzt gelebt hatte, ins Pariser Panthéon überführt worden wären – wie der französische Staatspräsident vorschlug – ist ihm erspart geblieben. Das Fussballmatch, das in Erinnerung an ihn gespielt wurde, hätte er sich wohl gefallen lassen.

  1. aus diesem Anlass sind drei Biografien erschienen, aus denen man sich über sein Leben und Werk informieren kann: Radisch, Iris: Camus. Das Ideal der Einfachheit, Hamburg 2013; Meyer, Martin: Albert Camus. Die Freiheit leben, München 2013; Onfray, Michel: Im Namen der Freiheit – Leben und Philosophie des Albert Camus, München 2013. Als Lektüre – Einstieg würde ich das postum erschienene, autobiografische Romanfragment: Der erste Mensch empfehlen, und dazu den Roman Die Pest, der ihn weltberühmt gemacht hat.

Das Leben als letzte Gelegenheit
Marianne Gronemeyer über Tod und Lebenstempo

marianne gronemeyer Ihre bereits vor über zwanzig Jahren erstmals veröffentlichte Untersuchung über den Geschwindigkeitsrausch, dem unsere Gesellschaft und also wir alle – mehr oder weniger – verfallen sind, beginnt Marianne Gronemeyer 1 mit der Frage:

Wie konnte das Leben so unter Zeitdruck geraten?…Man mag das bizarre Hochgeschwindigkeitsunternehmen je nach Geschmack und Standpunkt kontraproduktiv nennen, pervers, anmaßend, frevlerisch, hybride oder dumm, weil es den feinen Unterschied zwischen Qualität und Quantität verkennt. In jedem Fall scheint es als eine Verirrung des Menschen, der hoch hinaus will: die Nachfahren des Prometheus sind auf Abwege geraten und haben die Anmaßung zu weit getrieben.

Die Autorin nennt vernunftgemäße Weltveränderung die Grundgebärde der Neuzeit. Dabei geht sie von der vorherrschenden Denkgewohnheit aus, Menschen hätten mit dem Ende des Mittelalters begonnen, sich als tatkräftige Akteure zu verstehen, die selbstbewusst und zuversichtlich die Natur nach ihren laufend fortschreitenden Erkenntnissen formen. Gronemeyer stellt nun, im Verein mit anderen Autoren, deren Überlegungen sie diskutiert, diese Denkgewohnheit auf den Kopf:

Wie nun aber, wenn alles ganz anders begann? Wenn nicht große Entwürfe geschmiedet, sondern starke Bollwerke gebaut wurden…wenn nicht prometheischer Geist, sondern Todesangst die Moderne inspirierte?

Bis ins Hochmittelalter sei das Sterben ins Leben eingebettet gewesen; die Menschen wären im Kreise ihrer Familien an erwartbaren Krankheiten gestorben, begleitet von der Vorstellung des Übergangs zum „wirklichen“ Leben im Himmel, bestattet und betrauert mit der Unterstützung durch erprobte Rituale. Dies hätte sich durch das Auftreten der Pest tiefgreifend verändert.

Vom 14. bis ins 18. Jahrhundert haben Pestepidemien Europa heimgesucht, Millionen Menschen starben daran, in den härtesten Zeiten bis zu 50% der Gesamtbevölkerung. Die Pest war unberechenbar und unvorhersehbar, Methoden, sie zu vermeiden oder zu heilen, waren unbekannt. Da die Menschen nichts so sehr fürchteten wie Ansteckung, mieden sie Kontakte, soweit sie konnten; alle gewachsenen sozialen Strukturen und die gesamte öffentliche Ordnung mit Begleit- und Bestattungsritualen zerbrachen. Dies hätte zu tiefer kollektiver Mutlosigkeit geführt, und – gemeinsam mit dem Niedergang kirchlicher Autorität – zum Verfall des Glaubens an ein ewiges Leben beigetragen, schreibt Gronemeyer. Der Tod sei den Menschen nackt und schrecklich entgegengetreten:

Dieser im Pestinferno entstandene Tod ist es, der das Lebensgefühl der Moderne entscheidend prägt. Die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod.

Dies wirkt bis heute. Viele Menschen sprechen und denken vom Tod als dem feindlichen Alleszerstörer. Er wird weggeschoben und totgeschwiegen. Das andere Bild: dass der Tod ein Teil des Lebens ist, den wir als selbstverständlichen Teil eines Kreislaufes ruhig erwarten können, hat keinen Platz in der Vorstellungswelt der Moderne.

Zwei Denker der frühen Neuzeit nennt Gronemeyer, die ganz unterschiedliche, einander ausschließende Vorschläge gemacht hätten, wie Menschen sich gegen das Ungeheuerliche des Todes wappnen könnten: Michel de Montaigne 2 und Rene Descartes 3. Montaignes Denken steht in der Tradition antiker Denker wie Epikur: wir sollten der Todesfurcht keine Macht über uns einräumen:

Berauben wir den Tod seiner stärksten Trumpfkarte, die er gegen uns in Händen hält,und schlagen wir dazu einen völlig anderen als den üblichen Weg ein: Berauben wir ihn seiner Unheimlichkeit, pflegen wir Umgang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, bedenken wir nichts so oft wie ihn! Stellen wir ihn jeden Augenblick und in jeder Gestalt vor unser inneres Auge. 4 montaigne

Montaigne schreibt, wir sollten des Todes immer gewärtig und zur Abreise gerüstet sein. Dabei sieht er dem Ewigkeitsverlust ohne jede Tröstung ins Auge, wie Gronemeyer hervorhebt. Die Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, die anzustreben sei, bedeute aber nicht Indifferenz:

Der Nutzen des Lebens kommt nicht auf die Dauer desselben, sondern auf den Gebrauch an…Er beruht auf eurem Willen, nicht auf der Anzahl der Jahre, die ihr gelebt habt.

Der Lohn für ein pflichterfülltes, nützliches Leben ist bei Montaigne kein höherer Sinn, sondern einzig die Abwesenheit von Todesfurcht. Gegen den Tod vorzusorgen, erscheint ihm absurd; Sicherheit liegt für ihn ausschließlich darin, seine Lebensspanne ungeschützt auszuhalten. Das Denken Rene Descartes‘ weist in die diametral entgegengesetzte Richtung, wie Gronemeyer belegt. Während Montaigne davon spricht, wir müssten der Furcht unverwandt ins Auge blicken, um sie zu überwinden, lässt Descartes, der mit seinem Kernsatz cogito ergo sum den modernen Diskurs über Vernunft eröffnet hat, sie einfach nicht gelten:

Was die Furcht oder den Schrecken betrifft, so sehe ich nicht, dass sie jemals lobenswert oder nützlich sein können…Und da der Hauptgrund der Furcht in der Überraschung besteht, gibt es nicht Besseres, daran vorbeizukommen, als von Vorüberlegungen Gebrauch zu machen und auf alle Ereignisse vorbereitet zu sein…Furcht ist eine Verwirrung der Seele, die ihr die Kraft raubt, den Übeln, die sie nahen sieht, zu widerstehen. 5

rene descartes

Wie man der Furcht beikommen könne, beschäftigt beide. Montaigne will sich selbst und uns deutlich machen, es bleibe kein anderer Weg, als sie einfach auszuhalten. Dieser Zugang hat wohl die Furcht bei Vielen noch vergrößert, und er blieb historisch ohne Nachhall, wie Gronemeyer schreibt. Descartes’ Diffamierung der Furcht hingegen hätte dem Projekt der Moderne den Weg gebahnt:

Sicherheit soll künftig die Furcht objektiv erübrigen…Das ist das Kalkül, das Descartes seinen zaudernden Zeitgenossen aufmacht. Am Ende steht eine Welt in Aussicht, in der es nichts zu fürchten gibt, weil die Anlässe der Furcht samt und sonders ausgeschaltet oder unter Kontrolle gebracht wurden. Die Furcht wird verurteilt, weil sie die Tatkraft hindert, die aufgebracht werden muss, um die Welt endgültig sicher zu machen. Descartes’ Anleitung zur Vermeidung von Angst und Schrecken enthält trotz der spartanischen Kürze das ganze auf Fortschritt gestimmte Konzept moderner Weltgestaltung. Fortschritt ist in seinem harten Kern nichts anderes als die Optimierung von Sicherheit…Aus Montaignes Ermunterung zur Furchtlosigkeit springt keine Fortschrittsidee heraus. 6

Gronemeyer nennt Montaigne Selbstbildner und Decartes Welterneuerer. Während es dem ersten darum gegangen sei, Leben und Tod in ihrer Unberechenbarkeit hinzunehmen und damit zu leben, hätte der zweite in tatkräftiger Weltgestaltung die Möglichkeit gesehen, die Natur mit ihren Risiken und Unvorhersehbarkeiten unter Kontrolle zu bringen. Montaigne hätte, als das Vertrauen in die wirkende und ordnende Macht eines Gottes zunehmend verlorengegangen war, zweck-los nachgedacht und die entstandene Leere ausgehalten; Descartes hingegen hätte unter Einsatz der Naturwissenschaften dafür geeifert, die Welt den Menschen vorhersehbar, nützlich und unschädlich zu machen. Er habe gemeint, wenn der Mensch die Natur und ihre Wirkungsweise nur genau genug durchschaue, werde er sich zu ihrem Herrn und Meister machen können. Er hätte eine Vernunft propagiert, die den kommenden Ingenieuren der Natur den Weg geebnet habe, und ihr dabei die kontemplative Muße genommen. Ausgehend von der Feststellung, dass von diesen beiden Antipoden der Descartes’sche Ansatz sich durchgesetzt habe, entwickelt Gronemeyer im Rest des Buches die Folgen für Lebensgefühl und gesellschaftliche Entwicklungen in der Neuzeit. Ein zentrales Element ihrer Analysen ist die Zeit: sie wäre lange an Hand des natürlichen Kreislaufs von Tag und Nacht sowie der Jahreszeiten geschätzt und eingeteilt worden, bis durch das Aufkommen der Räderuhr ihre individuellen und regionalen Schwankungen „objektiviert“ worden seien. Dieser Übergang hätte lange gedauert:

…erst wenn aus Tätigkeiten keine Zeiteinteilungen mehr herausspringen, weil der rasende Maschinentakt sie regiert, wird der Mensch ohne Alternative an die Zeit der Uhr gefesselt und auf sie angewiesen. 7.

Auf diese Weise sei nach und nach dauerhafter Beschleunigung Tür und Tor geöffnet worden: die tickende Zeit ist ihrer Zeit voraus. Gleichzeitig habe das Bild vom Tod sich gewandelt: er sei nicht mehr von Gott verhängt, sondern werde zum schwerwiegender Defekt des menschlichen Körpers, der nun in Analogie zu einer Maschine gesehen wird:

Die Lokalisierung der Zeit in der Uhr und die Verlegung des Todes in den Mechanismus, als den man sich den lebendigen Körper denkt, erfüllen denselben Zweck: die Beherrschbarkeit. 8

Descartes habe ungebrochene Erwartungen und Hoffnungen auf die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft gesetzt, die das Leben verlängern sollte, und zugleich auf die Erfindung zahlreicher Maschinen, um es zu erleichtern. Bei diesen – durch viele Erfolge bestätigten und beschleunigten Prozessen – seien Gelassenheit, Geduld und Zweifel als zeitraubende Abweichungen auf der Strecke geblieben.   Das sind nur Bruchstücke aus dem originellen und inhaltsreichen Buch Gronemeyers, das nach zwanzig Jahren aktuell ist wie je. Warum ich sie hier vorgestellt habe? Unser Umgang mit Zeit, längst schon schleunig genug, nimmt immer noch an Fahrt auf, wird immer noch mehr fraktioniert, zu unser aller Schaden, wie ich meine. Dass wir uns das, wenn auch murrend, so lange und so heftig bieten lassen und noch eifrig und tüchtig mittun, darin liegt – über ökonomische und gesellschaftpolitische Gründe aus der Gegenwart hinaus – ein Widerspruch, über den es sich wohl nachzudenken lohnt. Gronemeyer bringt im Verein mit ihren Gewährsleuten 9 einen historischen Erklärungskontext, der überrascht und dabei tief greift – in einen Bereich, den auch wir Heutigen nur ungern gelten lassen: wie wir mit dem Tod und unserer Angst davor umgehen.

  1. Marianne Gronemeyer ist eine deutsche Erziehungswissenschafterin und Autorin. Eine komprimierte Zusammenfassung ihres Werks findet sich unter: http://www.salzburg.gv.at/marianne_gronemeyer.pdf. In diesem Blog-Eintrag werden Grundzüge und Haupthemen ihres Buches: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, 5. Auflage, 2014, vorgestellt.
  2. Näheres über diesen großen französischen Denker des 16. Jahrhunderts, den Autor der Essais, auf diesem Blog unter: „Es sich auf der Erde heimisch machen – Über Michel de Montaigne“
  3. Über den Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschafter, auch er ein Franzose des 16. Jahrhunderts, gibt es gute erste Informationen unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes
  4. Michel Eyquem de Montaigne: Que Philosopher C’Est Apprendre à Mourir, in: ders.: Essais, 1. Buch, Kapitel 20
  5. Descartes, Rene: Les Passions de l’âme, dt.: Die Leidenschaften der Seele, hrsg. von Klaus Hammacher, 1984, S 273-275
  6. Gronemeyer, s.o., S. 33f.
  7. Gronemeyer, s.o., S 85
  8. Gronemeyer, s.o., S.99
  9. allen voran ihr Lehrer Ivan Illich, dem das Buch auch gewidmet ist

Mark Aurels Gedanken über den Tod

aure_000In seinen Selbstbetrachtungen schreibt Mark Aurel 1: Auch wenn du dreitausend Jahre leben würdest, oder auch dreißigtausend: denk daran, dass keiner ein anderes Leben verliert als das, das er wirklich lebt und kein anderes lebt als das, das er verliert. Das läuft beim längsten Leben auf das gleiche hinaus wie beim kürzesten. Der gegenwärtige Zeitpunkt dauert für alle gleich, wie groß auch die Unterschiede in der Dauer der Vergangenheit gewesen sein mögen. Den Zeitpunkt, zu dem wir das Leben verlieren, erleben wir nur wie einen Augenblick.

  1. Der römische Kaiser Marcus Aurelius lebte im 2. Jahrhundert. Er war ein letzter Vertreter der stoischen Philosophie. Näheres unter: http://www.info-antike.de/marcaur.htm. Der hier zitierte Text stammt aus den Selbstbetrachtungen, 2/14, http://gutenberg.spiegel.de/buch/1479 , frei zitiert von Evamaria Glatz